Nicht nur in Zürich, Chur oder Genf gibt es eine offene Drogenszene, auch die Lage rund um den Bahnhof Brugg spitzt sich weiter zu. Die Massnahmen bis jetzt: Erhöhte Polizeipräsenz. Doch reicht das wirklich aus oder ist es reine Symptombehandlung? ArgoviaToday hat bei Thilo Beck, Psychiater und Co-Chefarzt des Arud Zentrum für Suchtmedizin in Zürich, nachgefragt, was es für eine Verbesserung der Gesamtsituation in Brugg braucht.
Macht die Entmenschlichung blind?
Eine grosse Schwierigkeit der Drogenpolitik liegt im Schubladisieren in Opfer und Täterschaftsrollen. In der Diskussion gehe vielfach vergessen, worum es sich bei der Gefahrenursache eigentlich handelt – um Menschen.
«Es scheint oft unterzugehen, dass es sich bei dieser Szene auch um Menschen in äusserst prekären Lebensumstände handelt. Man fokussiert sich mehr auf die Störung, die im öffentlichen Raum entsteht und ignoriert in diesem Moment, dass es für eine Lösung viel mehr braucht als Polizeieinsätze», sagt Beck.
Darum bringt eine Räumung häufig nichts
Durch den Einsatz repressiver Massnahmen wird oft nur Symptombehandlung betrieben. So auch in Brugg-Windisch, wo die Polizeipräsenz erhöht wird, um grössere Personengruppen, welche als kriminell- und problembelastend wahrgenommen werden, aufzulösen. Doch solche Räumungen sind häufig nur eine Problemverlagerung.
«Die Szene verteilt sich einfach und bildet sich irgendwo anders wieder neu. Am Problem selbst ändert sich eigentlich nichts, es verschlimmert meist sogar die Situation der Betroffenen», führt Beck aus. Die polizeiliche Räumung ist zwar eine Massnahme, die man treffen kann, aber sie funktioniert nur mit Unterstützungsmassnahmen. Sonst läuft sie «ins Leere», wie der Experte genauer erläutert.
Dass überhaupt offene Drogenszenen entstehen, ist in der Regel ein Ausdruck von ungenügender Unterstützungs- und Behandlungsangeboten. «Es geht darum, die Menschen dort abzuholen, wo sie stehen. Man muss ihnen bedarfsgerechte Angebote machen, um ihnen eine Alternative zur offenen Szene zu bieten und sie zu stabilisieren. Suchtkranke brauchen Unterstützung und keine Verfolgung», hält Beck fest. «Zudem ist es wichtig festzustellen, dass diese Schwerstbetroffenen gesamthaft gesehen eine relativ kleine Gruppe darstellen und dass der grösste Teil der Konsumenten und Konsumentinnen in der Schweiz keine massgeblichen Probleme hat.»
Ist Legalisierung utopisch oder der übernächste Schritt?
Für unsere Gesellschaft ist es insgesamt die schlechteste Form, wenn psychoaktive Substanzen über den Schwarzmarkt laufen, so Beck. «Das Verbot ist eine Lose-Lose-Situation für alle. Wenn man das Ganze rational betrachtet, dann gibt es nur eine Antwort, wie man dem organisierten Verbrechen die Grundlage entzieht: Man muss eine Regulierung einführen», führt er aus.
Der Experte spricht sich deshalb für eine Legalisierung unter strikten Rahmenbedingung aus – also einer Regulierung. «Bei jeder Legalisierung einer Substanz müsste natürlich überprüft werden, was genau Sinn ergibt und was nicht», ergänzt er. Für Schwerbetroffene seien aber neben adäquaten Behandlungsangeboten zunächst einmal Konsumräume wichtig, damit sie im geschützten Rahmen konsumieren können. «Und das geht bereits in die Richtung der Regulierung, da in Konsumräumen der Microdeal toleriert wird», sagt Beck.
Geschützte Konsumräume als Lösung
Wenn es um offene Drogenszenen geht, sind geschützte Konsumräume ein essenzieller Teil bei der Problemlösung, stellt der Experte klar. Einerseits löse sich dadurch das Problem der Personenansammlung an öffentlichen Orten und andererseits können die Suchtkranken damit dem Druck und dem Stress der offenen illegalen Szene entkommen und geeignet unterstützt werden. «In solchen Räumen gelangen sie so weit zur Ruhe, dass die Lebenssituation erstmals von einer anderen Ebene aus betrachtet werden kann», sagt Beck im Gespräch.
Im Konsumraum geht es nicht nur um das sichere Konsumieren. Betroffene erhalten dort auch Zugang zu Hilfsangeboten und Therapien unterschiedlichster Art: «Sei es im Sozialarbeiterkontext für Obdachlose oder für den Zugang zu Beschäftigungsprogrammen, gesundheitlich bei Hepatitis- oder HIV erkrankten Personen oder auch bei psychischen Schwierigkeiten», erklärt er weiter.
Warum hat der Aargau noch keine Konsumräume?
Der Aargau hat trotz seiner Grösse und der bekannten Problematik noch immer keine Konsumräume, warum eigentlich? «Das sind politische Gründe. Häufig sind es moralische Gründe und nicht vernunftbezogene Entscheidungen, die da mitspielen und leider die Eröffnung von Konsumräumen verunmöglichen. Das ist bedauerlich. Ich wünsche dem Kanton Aargau, das man sich durchringen kann, diesen Schritt zu machen und diese Angebote installiert, das wäre wirklich wichtig», erläutert Beck.
Lethargie in der Politik?
Im Fall Brugg-Windisch ist es schon fast ein ironisches Bild: Die Drogenhotspots befinden sich alle nur wenige Meter von der ambulanten Substitutions- und Heroinabgabestelle der Psychiatrischen Dienste Aargau (PDAG) in Königsfelden. Obwohl die Problematik seit 2020 den betroffenen Akteuren bekannt ist, gibt es bis jetzt kaum Massnahmen. Aber es tut sich zumindest etwas.
Es soll eine Arbeitsgruppe gebildet werden, die sich dem Thema Sicherheit am Bahnhof annehme und geeignete Massnahmen bespricht. «Aktuell wird neben der Erstellung einer Sozialraumanalyse auf Basis von Erfahrungen in anderen Städten und Kantonen sowie in Gesprächen mit Fachpersonen evaluiert, welche Massnahmen zu ergreifen sind. Die Gemeinden Brugg und Windisch werden nach dem kommenden Treffen der Arbeitsgruppe weiteres kommunizieren», teilt Matthias Guggisberg, Stadtschreiber von Brugg auf Anfrage von ArgoviaToday mit.
Gespräche sind wichtig und gut, aber Massnahmen braucht es so früh wie möglich: «Wenn man offene Drogenszenen zu lange laufen lässt, entwickeln sie eine Eigendynamik, die teilweise auch weitere Menschen anzieht», warnt der Experte weiter.