Aargau/Solothurn

Bei Vergiftungen zur Stelle: So arbeiten Notfall-Pilzexperten

Pilzvergiftung

Bei Vergiftungen zur Stelle: So arbeiten Notfall-Pilzexperten

· Online seit 16.10.2023, 05:52 Uhr
Im Herbst haben Pilzkontrolleurinnen und -kontrolleure alle Hände voll zu tun. Dann ist nämlich unter anderem Steinpilz-Saison. Aber nicht nur geniessbare, sondern eben auch giftige Pilze spriessen im Oktober zuhauf aus dem Boden. Der Aargauer Notfall-Pilzexperte Harald Sigel erzählt aus seinem Alltag.
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Es gibt Pilzkontrolleure und dann gibt es noch sie: Notfall-Pilzexperten. Menschen, die auf freiwilliger Basis helfen und beraten, wenn jemand den falschen Pilz ins Risotto gemischt hat. Im Interview mit ArgoviaToday erzählt der Aargauer Notall-Pilzexperte Harald Sigel von seinem Engagement, der nötigten Ausbildung und seinem kuriosesten Fall.

Herr Sigel, was genau beinhaltet ihr Job als Notfall-Pilzexperte?

Harald Sigel: «Im Grunde geht es bei unserer Aufgabe darum, potenziell tödliche Pilzarten auszuschliessen. Das ist nicht immer einfach und manchmal auch nicht möglich, wenn zum Beispiel von der Pilzmahlzeit nichts mehr übrig ist und keine Rüstabfälle vorhanden sind. Wenn wir also solche Pilze in der Mahlzeit nicht ausschliessen können, so wird der Arzt vermutlich das Schlimmste annehmen und auf solche Pilze behandeln.»

Was passiert bei einer Pilzvergiftung?

«Ein Grossteil der giftigen Pilze sind nur Magen-Darm-giftig. Das bedeutet, dass zwar heftige Komplikationen eintreten können – wie Erbrechen, Durchfall, Krämpfe und so weiter –, aber mit der richtigen medizinischen Unterstützung verlaufen solche Vergiftungen normalerweise nicht tödlich.

Es gibt aber Pilze, die Organe angreifen, vornehmlich Leber oder Niere. Diese Arten gelten als potenziell tödlich giftig, weil sie ohne rechtzeitige und richtige Behandlung zum Tod führen können. Die Behandlung einer solchen Vergiftung erfordert andere und aufwendigere medizinische Massnahmen als bei einer ‹normalen› Vergiftung.»

Wie häufig erhalten Sie einen Anruf?

«Das hängt vom aktuellen Pilzwachstum ab. Die ersten Anrufe haben wir normalerweise im Frühling, wenn die ersten kleinen Rasenpilze wachsen. Da sind vor allem kleine Kinder betroffen, so im Alter zwischen ein und drei Jahren, die halt noch alles in den Mund stecken, was interessant aussieht.

Bis jetzt hatten wir allerdings noch keinen Fall mit Kindern, die Beschwerden hatten. Meist wurden die Pilze wieder ausgespuckt oder wenn geschluckt, dann nur in sehr kleinen Mengen. Dort ist der Vorteil, dass oft noch mehr der gleichen Pilze im Rasen vorhanden sind, man hat also Anschauungsmaterial. Anrufe wegen Kindern haben wir so drei bis vier Mal im Jahr.»

Und wer ist im Herbst betroffen?

«Im Laufe des Herbstes kommen dann die Anrufe, bei denen Erwachsene betroffen sind. Die Anzahl der Anrufe kann nicht genau angegeben werden, das können in einer Saison drei sein – aber auch zehn oder zwölf Anrufe. Hier kommt erschwerend dazu, dass Pilzmahlzeiten meist als Nachtessen zubereitet werden. Die Reaktionszeit des Körpers bei Pilzvergiftungen ist je nach Menge und Pilzart zwischen einer halben Stunde und acht Stunden. Die Anrufe kommen also oft mitten in der Nacht, so zwischen 23 Uhr und 1 Uhr.»

Wie gehen Sie vor, wenn jemand anruft, der glaubt, eine Pilzvergiftung zu haben?

«Meist sind es nicht die Patienten, die anrufen, sondern Ärzte, Apotheker oder Angehörige. Das Vorgehen ist aber mehrheitlich dasselbe. Wir versuchen mit Fragen möglichst viel herauszufinden, zum Beispiel welche Beschwerden auftreten, wie lange die Mahlzeit her ist, wann die Beschwerden aufgetreten sind, ob Reste, Rüstabfälle oder allenfalls Fotos der Pilze vorhanden sind. Oft kann man so eine erste Eingrenzung machen oder sogar Entwarnung geben. Wenn keine Ferndiagnose möglich ist, so gehen wir vor Ort.»

Wie werden Notfall-Pilzexperten ausgebildet?

«Grundvoraussetzung ist die abgeschlossene Ausbildung als Pilzkontrolleur, ein paar Jahre Erfahrung sowie weitere Ausbildungen, beispielsweise im Mikroskopieren. Die Ausbildung dauert dann zwei Tage – ein intensives Wochenende – unter der Leitung von Spezialisten der Vapko.»

Wie viel verdient ein Notfall-Pilzexperte?

«Das Engagement ist freiwillig. Die Entlöhnung ist je nach Fall anders geregelt: Kleinere Einsätze, vornehmlich telefonische Beratungen mit Hin- und Herschicken von Fotos, Fragen beantworten und so weiter werden von der Schweizerischen Vereinigung amtlicher Pilzkontrollorgane Vapko mit einer Pauschale pro Fall entschädigt. Sobald wir aber von einem Spital oder Arzt aufgeboten werden und einen Einsatz vor Ort machen, so verrechnen wir unseren Aufwand der aufbietenden Stelle. Das wird auch klar vorher mitgeteilt. Das Spital muss uns also als eine Art externe Berater bezahlen.»

Welcher Fall ist Ihnen im Laufe Ihrer Tätigkeit am meisten in Erinnerung geblieben?

«Ein Aufgebot des Kantonsspitals Aarau. In der Nacht wurde ein männlicher Patient eingeliefert mit starken Vergiftungserscheinungen nach der Einnahme einer Pilzmahlzeit. Die verspeisten Pilze wurden nicht frisch gesammelt, sondern schon vor längerer Zeit. Daraus wurde ein fertiges Pilzgericht zubereitet und portionenweise eingefroren. Für die Pilzmahlzeit wurde also eine dieser gefrorenen Portionen aufgetaut und zubereitet.

Wir sind mit unserem Equipment – unter anderem Werkzeuge, Literatur und Mikroskop – ins KSA gefahren. Für unsere Untersuchung wurde eine weitere Portion aufgetaut und damit versucht, die verwendeten Pilze zu analysieren. Dazu muss erst mal alles, was nicht Pilz ist – also Sauce, Zwiebeln, Gewürze und so weiter – ausgewaschen werden.

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Wir konnten dann zuerst das Vorhandensein von tödlich giftigen Pilzen ausschliessen, weil offensichtlich nur zwei Pilzsorten verwendet wurden, was die Unterscheidung etwas einfacher machte.

Der für die Beschwerden voraussichtlich verantwortliche Pilz war aber nicht ein Giftpilz, sondern bei richtiger Zubereitung ein Speisepilz. Der Pilz ist aber wie viele andere auch roh giftig und muss mindestens 20 Minuten gekocht werden. Ob das der Fall war, wissen wir nicht. Auch waren die Pilzstücke sehr gross und mindestens die Hälfte der untersuchten Stücke waren offensichtlich zum Zeitpunkt der ersten Zubereitung sehr alt, eventuell verschimmelt.

Auf dieses Problem stossen wir auch in der regulären Kontrolle immer wieder, viele Sammler können frische, gesunde Pilze nicht von verschimmelten unterscheiden. Man geht davon aus, dass ein grosser Teil (bis 80 Prozent) der vermeintlichen Pilzvergiftungen gar nicht von Giftpilzen, sondern von zu wenig lange gekochten oder bereits vergammelten Pilzen herrührt. Da spricht man dann von einer unechten Pilzvergiftung, also eine Lebensmittelvergiftung aufgrund von Schimmelpilzen.»

Hattest du schon einmal eine Pilzvergiftung oder kennst jemanden, der einen giftigen Pilz gegessen hat? Dann melde dich bei uns.

veröffentlicht: 16. Oktober 2023 05:52
aktualisiert: 16. Oktober 2023 05:52
Quelle: ArgoviaToday

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