In einigen Sportarten hält sich die Überzeugung, dass es leistungsfördernd ist, sich an der unteren Grenze des Body-Mass-Index' zu bewegen. Manche Sportlerinnen und Sportler treiben es im Bestreben nach Höchstleistungen allerdings zu weit. Sie trainieren viel, reduzieren die Energiezufuhr, um ihr Gewicht zu senken und ihre Leistung zu steigern. Sie ordnen ihre Gesundheit dem Erfolg unter. Langfristig kann dieses Verhalten zu einer Essstörung führen.
Andrea Ammann litt selbst fast 20 Jahre unter Bulimie. Nun begleitet sie Betroffene auf dem Weg, die Bulimie zu überwinden und gibt ihre Erfahrungen weiter. Mit ArgoviaToday spricht sie über Unterstützungsansätze bei Leistungssportlerinnen und -Sportlern und welche Rolle die eigene Stimme und Kontrolle im Kopf auf dem Weg der Genesung spielen.
ArgoviaToday: Wie sieht ihre Unterstützung und Begleitung von Bulimie-Betroffenen aus? Gibt es Unterschiede bei Sportlerinnen und Sportlern?
Jeder Mensch ist individuell und trotzdem zeigen Menschen mit Bulimie oder generell einer Suchtkrankheit ein ähnliches Verhalten, welches sich im Kontext, in den Handlungsweisen und der Ausprägung unterscheidet. Es gibt zum Beispiel Athletinnen oder Athleten, die unglaubliche Mühe haben, wenn sie keinen vorgegebenen Ernährungsplan haben, den sie kontrollieren können und andere sind froh, wenn sie frei über das Essen entscheiden können und keine Einschränkungen haben. Darauf muss ich in der Begleitung Rücksicht nehmen. Dazu sage ich gleich zu Beginn einer Begleitung, dass die Waage kein Barometer für Wohlbefinden ist und dass sie diese entsorgen sollten. Ich zeige Ihnen auf, dass das Gewicht nur eine Zahl ist. Athleten, die sonst immer am unteren Ende des Body-Mass-Index lagen, haben plötzlich viel mehr Energie mit Normalgewicht und einem ausgewogenen Essverhalten. Das ist das Ziel. Dass diese Sportlerinnen und Sportler zu sich stehen können und ihr Wohlbefinden keinem Gewicht in Zahlen unterordnen. Denn jeder Mensch hat eine andere Körperzusammensetzung. Die gilt es zu achten.
Fällt es den betroffenen Athletinnen oder Athleten schwer, Gewicht und Wohlbefinden zu trennen?
Ich habe mal eine Sportlerin begleitet, die 15 Jahre unter Bulimie litt. Irgendwann musste sie wieder zu einem medizinischen Check-up und dort wurde ihr gesagt, dass sich ihr Gewicht am oberen Limit befindet und sie eigentlich zu viel wiege. Die Sportlerin entgegnete, dass sie sich dem nicht mehr beugen möchte, weil sie die Bulimie endlich überwunden habe. Sie höre nun auf ihren Körper und achte auf ihn. Sie fühle sich so stark und spüre das Feuer wie schon lange nicht mehr. Das fand ich sehr spannend und inspirierend: Diesen Mut, zu sich zu stehen.
Was fanden Sie so inspirierend daran?
Sie ist nicht in alte Strukturen verfallen, sondern zu sich gestanden. Sie hat ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden über den nächsten Wettkampf und die scheinbar wichtigen Zahlen gestellt. Sie hat sich nicht einschüchtern lassen, sondern hat anschliessend mit den Ärzten, den Trainern und Betreuern gesprochen und sie überzeugen können, dass ihr Weg passt.
In einigen Sportarten spielt das Gewicht eine grosse Rolle. Oft wird den Athletinnen und Athleten jahrelang eingeredet, dass sie nur mit wenig Gewicht erfolgreich sein können. Wie schwer ist es, diese Glaubenssätze dann abzulegen?
Wir schauen uns an, wann und in welchem Zusammenhang dieser Glaubenssatz entstanden ist. Und dann checken wir ab, ob die Situation oder Bezug zu diesem Satz heute noch der Realität entspricht. Meist fällt den Betroffenen erst dann auf, dass dieser Satz keine Gültigkeit mehr hat, dass sich die Umstände geändert haben und ihr Leben nun ein komplett anderes ist. Sie lernen auch, dass es keine «guten» und «schlechten» Lebensmittel gibt, sondern dass sie alles Essen und vor allem geniessen dürfen. Oft nehmen ehemalige Sportlerinnen und Sportler diese Angewohnheiten mit in ihr neues Leben danach. Sie müssen erst lernen, dass in der neuen Realität alte Glaubensätze keinen Platz mehr haben, sondern Genuss und Lust an deren Stelle tritt. Es bedeutet nicht, dass ich verfressen bin, wenn ich ein zweites Glacé essen will, wenn es heiss ist, sondern dass ich einfach Lust darauf habe.
Mir fällt auf, dass im Zusammenhang mit Ernährung immer von Kontrolle gesprochen wird. Die Bulimie jedoch suggeriert eine vermeintliche Gewichtskontrolle, die aber keine ist, oder?
Betroffene Sportlerinnen und Sportler wählen meiner Erfahrung nach die Bulimie nicht, um ihr Gewicht zu kontrollieren, sondern um für einen Augenblick auszubrechen und die Kontrolle zu abzugeben. Bulimie ist Kontrollverlust und gleichzeitig Kontrolle. Das ist das perfide an diesem Zwangsverhalten. Wenn du mass- und wahllos Lebensmittel in dich reinstopfst, bist du in einem absoluten Wahn, nicht empfänglich für das Aussen, in einem kontrollfreien Raum. Und in diesem Raum ist alles erlaubt. Du darfst alles essen und so viel du willst und kannst. Du musst dich mit nichts beschäftigen. Gleichzeitig kannst du mit dem Reinstopfen und anschliessenden Erbrechen alles loslassen, was dich beschäftigt, dich stresst oder belastet. All das kannst du dann in diesen Momenten wegdrücken und danach ist es vermeintlich leichter, mit dem Leben wieder klarzukommen.
Dient die Bulimie demnach den Athletinnen und Athleten als Ventil?
Ja, genau. Damit lassen sie und auch andere Betroffene aufgestauten Druck ab. Es ist oft dann ein Ventil, wenn sie nicht zu sich gestanden haben, wenn sie sich verbiegen, nicht mit sich verbunden sind oder ihnen das Gefühl vermittelt wird, sie seien irgendwie falsch, schlecht oder zu wenig gut. Einfach dann, wenn die physischen und psychischen Grenzen überschritten wurden. Und zwar von einem selbst.
Also ist es bei der Bulimie tatsächlich weniger ein Hunger nach Lebensmitteln, sondern ein Hunger nach etwas anderem?
Absolut. Es geht darum, etwas zu stopfen, etwas nicht fühlen zu wollen oder zu müssen. Gleichzeitig gibt es auch ein Gefühl von Macht, wenn sie all das verbotene Essen in Unmengen in sich reinstopfen. Viele haben einen strikten Ernährungsplan, welcher weder Zucker noch Pasta oder Pizza beinhaltet. Haben Betroffene einen Anfall, dann nehmen sie all das zu sich, was sie sonst niemals essen würden. Viele fühlen sich dann vermeintlich lebendig, was aber nur ein Trugschluss ist. Eigentlich verschliessen sie sich immer mehr vor dem Leben, fühlen sich gefangen, weil ihr Gewicht und die vielen Verbote ihr Leben einschränken und beherrschen.
Sind Angehörige oder Trainer auch in ihrer Begleitung involviert?
In erster Linie nicht, weil ich das «Setting» so nicht habe. Ich begleite die Betroffenen und helfe ihnen auf dem Weg aus der Krankheit. Wenn mich die Sportlerin oder der Sportler jedoch fragen, ob wir mit den Trainern oder den Funktionären das Gespräch suchen könnten, dann mache ich das auf jeden Fall. Nur war es bisher meist so, dass ich mit den Betroffenen selbst Ansätze erarbeitet habe, wie sie mit ihrem Umfeld kommunizieren können und wie sie diese einbinden wollen.
Wenn die Betroffenen ihre Unterstützung suchen, sind diese dann noch im Training oder haben bereits die Karriere beendet?
Das ist unterschiedlich. In meiner Begleitung betreue ich sowohl Athletinnen, die noch aktiv sind als auch Sportler, die ihre Karriere schon beendet haben. In der Betreuung und für das Ziel, aus der Bulimie auszusteigen, bedeutet das aber keinen Unterschied.
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