Im Gefängnistheater

Gestehen muss man, ob man will oder nicht — und zu gestehen hat man immer was

05.09.2022, 18:22 Uhr
· Online seit 30.08.2022, 11:12 Uhr
Sie sitzen hinter Gittern – einige für ein paar Jahre, andere für immer. Sieben Häftlinge aus der Justizvollzugsanstalt Lenzburg inszenieren ein Stück von Friedrich Dürrenmatt. Am 1. September ist Premiere. Was bedeutet es, als Gefangener Theater zu spielen, und wie ist es, mit Schwerverbrechern zu arbeiten? Ein Probenbesuch.
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«Sehe ich etwa aus wie ein Verbrecher?», fragt der Angeklagte und blickt in die Runde. Er ist fein gekleidet – trägt einen blauen Anzug, die Schuhe sind poliert. Das Haar hat er fein säuberlich zurückgekämmt; er ist höflich und drückt sich eloquent aus. Ein Verbrecher sieht anders aus. Oder?

«Die meisten kennen Straftäter nur aus Filmen oder der Zeitung, wo einem oft der Eindruck vermittelt wird, das seien alles kranke und gefährliche Monster», sagt Jo kurz vor der Probe. Im Stück spielt er den Angeklagten im blauen Anzug. «Wenn wir dann vor Publikum spielen und die Menschen sehen, dass wir gar nicht aussehen wie Monster und man sich mit uns auch noch normal unterhalten kann, überrascht das viele.» Jo sitzt seit 13 Jahren im Gefängnis; lebenslang.

Die anderen Rollen sind der Staatsanwalt, der Richter, der Verteidiger, der Henker und der Nummernboy. Dargestellt werden sie alle von Insassen der Justizvollzugsanstalt Lenzburg. Gerade proben die Gefangenen ein letztes Mal vor der Premiere.

Theater mit Gefangenen

Seit über zehn Jahren kommt die Theatergruppe «AUSBRUCH» alle zwei Jahre ins Gefängnis und macht mit den Gefangenen Theater. Diesmal: «Die Panne» von Friedrich Dürrenmatt. Erzählt wird das Stück aus der Perspektive des Angeklagten, Alfredo Traps. Nach einer Autopanne kommt dieser für eine Nacht in der Villa eines pensionierten Richters unter, der gerade Freunde zum Spieleabend eingeladen hat. Sie inszenieren eine Gerichtsverhandlung, wobei Alfredo Traps die Rolle des Angeklagten bekommt – er soll seinen ehemaligen Chef umgebracht haben. Im Verlauf des Spiels kann Traps irgendwann nicht mehr zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterscheiden.

Parallelen zur eigenen Geschichte

Jo macht zum dritten Mal beim Gefängnistheater mit – so häufig wie keiner der anderen. Obwohl er am meisten Bühnenerfahrung hat, zögerte er zunächst, die Rolle des Alfredo Traps zu übernehmen. Nicht, weil er sich die Hauptrolle nicht zutraute, sondern weil die Geschichte des Angeklagten im Stück nah an seiner eigenen liegt. «Bevor ich ins Gefängnis kam, war ich selbstständig, hatte eine Familie und ein ganz normales Leben. So wie Alfredo Traps, der Angeklagte. Am Anfang war ich unsicher, ob mir diese Rolle zu nah geht.» Davon spürt man heute, kurz vor der Premiere, nichts mehr. Der Text sitzt. Und es scheint, als fühle er sich wohl in seiner Rolle.

Meine Rolle, der Staatsanwalt

Auch Pablo – in der Rolle des Staatsanwalts – hat vor sechs Jahren schon einmal bei einer Theaterproduktion mitgemacht. Damals spielte er auch den Staatsanwalt. Wo Staatsanwälte im Gefängnis doch nicht den besten Ruf hätten, sagt er und grinst. «Ich spiele die Rolle aber gerne – vor allem, weil der Staatsanwalt in ‹Die Panne› auch ein bisschen der Bösewicht ist. Das gefällt mir.»

Pablo beschreibt das Theaterspielen wie eine Art Ausbruch aus seinem monotonen Gefängnisalltag. «Du kannst dir nicht vorstellen, wie öde es ist, wenn du Tag für Tag, Jahr für Jahr zur gleichen Zeit aufstehst, dasselbe frühstückst und dir gesagt wird, wann du arbeiten gehst, wann du telefonieren darfst. Mit der Zeit stumpft man da geistig ab.» Auf der Bühne ist dann plötzlich wieder das Gegenteil gefragt: Kreativität, Improvisation und Teamarbeit. Er erzählt aber auch von der Kehrseite: «Vor allem die Abende nach einem Auftritt, wenn du zurück in die Zelle gebracht wirst, allein bist und dir wieder bewusst wird, wo du bist, ist das schon manchmal hart.» Pablo spielt dann oft Gitarre. «Aber da hat jeder hier drin einen anderen Weg, mit solchen Momenten umzugehen.»

Vor der Probe bauen die Häftlinge in der Turnhalle den Boxring auf – die Bühne. «Zum Glück sind sie alle handwerklich so begabt», sagt Produktionsleiterin Lea, während die Männer geschickt den Ring aufbauen. «Annina und ich könnten das nie so schnell», fügt sie an und lacht. Lea Schwab führt zusammen mit Annina Sonnwald den «AUSBRUCH», die das Projekt initiiert hat.

Mit Gefangenen arbeiten: Anstrengend aber wertvoll

Mit Gefangenen zu arbeiten sei anstrengend. «Die Gefangenen haben die Ablenkung nicht, die wir haben. Sie kommen in die Probe und sind voll da; dadurch werden wir auch irgendwie gezwungen, 100 Prozent präsent zu sein.» Vor der Probe müssen Lea und das Team einen Sicherheitscheck passieren; Handys, Taschen und alle anderen Gegenstände, die vorab nicht angemeldet wurden, müssen draussen bleiben.

Organisatorisch ist das manchmal aufwändig. Die Momente, in denen sich das alles auszahlt, seien dafür umso wertvoller, sagt Lea. «Wenn die Gefangenen vor dem Publikum stehen und einen Applaus für das bekommen, was sie gemacht haben, wenn sie spüren, dass die Menschen ehrlich beeindruckt sind, dann siehst du die Freude richtig in ihren Augen. Das sind immer sehr schöne Momente.»

Welches Stück eingeübt wird und wer welche Rolle zugeteilt bekommt, wird in enger  Zusammenarbeit mit den Gefangenen entschieden. «Uns ist wichtig, dass wir nicht einfach mit einem Stück von Shakespeare oder so kommen und den Gefangen vorlegen, sondern dass sie aktiv mitgestalten; ihre Texte teilweise selber schreiben. Und gemeinsam entsteht dann so das Stück.»

Nach genau zweieinhalb Stunden ist die Probe vorbei. Die Häftlinge werden auf ihre Zellen und wir zum Ausgang gebracht, wo wir unsere Handys und Taschen zurückbekommen und als freie Menschen in den Alltag zurückkehren können.

Am Ende ist es die Frage nach Schuld und Unschuld, die bleibt. Oder in den Worten des Staatsanwalts: «Gestehen muss man, ob man will oder nicht, und zu gestehen hat man immer was.»

Die Premiere findet am 1. September statt. Tickets gibt es auf ausbruch.ch.

veröffentlicht: 30. August 2022 11:12
aktualisiert: 5. September 2022 18:22
Quelle: ArgoviaToday

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