KV-Reform

«Als ob bei einem Haus das Dach vor den Mauern gebaut würde»

02.08.2021, 05:36 Uhr
· Online seit 02.08.2021, 05:36 Uhr
Die Reform der kaufmännischen Ausbildung war unter dem Namen «Kaufleute 2022» bereits für nächstes Jahr angedacht. Mittlerweile wurde der Start um ein Jahr verschoben. In der KV-Küche brodelt es, auch aus dem Aargau kommen kritische Stimmen. Wir klären die wichtigsten Fragen.
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Die kaufmännische Ausbildung zählt seit Jahren zu den beliebtesten der Schweiz. Um den wandelnden Anforderungen der Arbeitswelt gerecht zu werden, war nun per Schuljahr 2022/2023 eine Reform geplant. Die letzte Revision der KV-Ausbildung liegt nämlich fast 20 Jahre zurück. Anstatt des fächerspezifischen Unterrichts will man die Lernenden handlungskompetenzorientiert ausbilden. Die Hauptaspekte der KV-Reform findest du in der Box.

Never change a winning team?

Die angedachte Revision brachte bisher viel Kritik mit sich, auch aus den Rängen der Berufsschulen. Jörg Pfister, Gesamtleiter und Rektor Berufslehre am Zentrum Bildung (ZB) in Baden, sagt gegenüber ArgoviaToday: «Die KV-Reform ist nötig und wichtig. Es sind einfach noch wichtige Fragen ungeklärt oder erst in Arbeit. Es wirkt ein bisschen so, als ob man bei einem Haus zuerst das Dach gebaut hätte und nun erst die Grundmauern aufziehen will.» Dem widerspricht die «Schweizerische Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen SKKAB» in einer schriftlichen Stellungnahme an ArgoviaToday. Die Reform basiere auf einer umfassenden Berufsfeldanalyse. Es seien Studien ausgewertet, Expertinnen und Experten befragt und die Praxis einbezogen worden. Die Ergebnisse dieser Analyse und die auf dieser Grundlage entwickelten Konzepte würden das Fundament, auf dem das «Haus» bzw. die Reform gebaut wurde, bilden.

Warum wurde der Start bereits verschoben?

Auf diese Frage schreibt die SKKAB: Die KV-Reform hat die Kriterien für die Umsetzung per Sommer 2022 erfüllt, die nationalen Wirtschaftsverbände (Schweizerischer Gewerbeverband, Schweizerischer Arbeitgeberverband, Kaufmännischer Verband Schweiz) hätten diesen Einführungszeitpunkt begrüsst. Es seien jedoch seitens einiger Kantone eine Verschiebung gefordert worden. Die Verbundpartner hätten daher den Einführungszeitpunkt auf 2023 festgelegt. Die Schweizerische Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB) stünde hinter diesem Entscheid. Damit hätten die Akteure genügend Zeit zur Vorbereitung der Umsetzung.

Was sind Handlungskompetenzen? 

Die Übersicht dazu findest du in der Box. Laut SKKAB seien die Leistungsziele bewusst offen formuliert, damit auf Veränderungen am Arbeitsmarkt rasch reagiert werden könne. Die Inhalte für die Berufsfachschulen würden beispielsweise in nationalen Umsetzungskonzepten konkretisiert. Diese liessen sich bei Bedarf schnell anpassen, womit die Ausbildung stets aktuell bleibe. Auch Jörg Pfister findet, dass die angestrebte Ausrichtung nach Handlungskompetenzen unbestritten wichtig sei. Das Ziel sei nämlich, auszubilden, was die Berufspersonen benötigten, um in ihrem Beruf erfolgreich und verantwortungsvoll zu handeln. Diese Kompetenzen könnten gemäss Pfister jedoch erst nachhaltig gegen Ende der Ausbildung in Verknüpfung mit den fachlichen Grundlagen der ersten vier Semester erlangt werden. Isoliertes exemplarisches Lernen schaffe keine Nachhaltigkeit, der Transfer sei kognitiv anspruchsvoll und könne ohne fundiertes fachliches Grundlagenwissen nur in den seltensten Fällen gelingen. Als Beispiel nennt Pfister unter anderem die Fremdsprachen, die Landesprache und das Rechnungswesen. Im schulischen Bereich sollen zukünftig die fünf wenig aussagekräftigen Handlungskompetenzfelder geprüft und im Notenausweis ausgewiesen werden. Nach Pfisters Auffassung würden die verlangten Kompetenznachweise dazu führen, dass künftige Arbeitgebende keine verlässlichen Hinweise zu den fachlichen Stärken und Schwächen der Lernenden erhielten.

Weigern sich die KV-Schulen, die Reform umzusetzen?

Dies sei ein Gerücht und stimme so nicht, sagt Pfister. Man habe sich aber gegen die verfrühte Umsetzung der Reform gewehrt. Die bisherigen Lehrperson müssen zuerst auf die neuen Aufgaben vorbereitet und geschult werden, insbesondere was den handlungskompetenzorientierten Unterricht und das Prüfen betrifft. Auch die Lehrmittel seien aktuell fächerspezifisch ausgelegt. Man verfüge also noch nicht über die entsprechenden Lehrmittel. Die SKKAB weist darauf hin, dass handlungskompetenzorientierter Unterricht in allen 230 beruflichen Grundbildungen Standard ist. Zur Unterstützung der Berufsfachschulen sind verschiedene Umsetzungsprojekte und Weiterbildungen für Lehrpersonen angelaufen. Es lägen auch bereits Lernmedien und weitere Hilfsmittel für die Umsetzung vor.

Berufsmaturitäts- und B-Profil-Bauchweh

Ebenfalls Bauchweh bereitet Jörg Pfister aber, dass das bisherige B-Profil komplett wegfällt. «Die heute bestehende Promotionsordnung betrifft nur die schulische Seite der KV-Ausbildung und hat den Zweck, den Bildungserfolg aller Lernenden zu maximieren. Fehlt sie (wie neu vorgesehen), werden wir in einer Klasse neben schulisch überdurchschnittlich begabten auch die schulisch weniger starken Lernenden haben. Gerade im anspruchsvolleren Wahlpflichtbereich «Zweite Fremdsprache» können wir uns das nicht leisten. Schulisch schwächere junge Berufsleute können nur noch auf die Attestausbildung EBA (Büroassistenten und Büroassistentinnen) ausweichen. Ob das die Betriebe unterstützen und ob man damit auf dem Arbeitsmarkt überhaupt Chancen hat, wird sich zeigen», gibt der Gesamtleiter des ZB zu bedenken. «Auch ein Wechsel von der Berufsmaturität mit der weiterhin gültigen Fächerorientierung in die neu handlungskompetenzorientierte ‹reguläre KV-Ausbildung› bringt eine zusätzliche Hürde für die Berufslernenden. Einen solchen Wechsel macht man meistens darum, weil man schulisch etwas überfordert ist. Mit dem Wechsel müssen sich die Lernenden nebst dem Klassenwechsel auch noch in eine völlig neue Umsetzung einarbeiten. Das kann nicht förderlich sein.»

Hier bestätigt die SKKAB, dass die Inhalte der BM1 zeitlich so abgestimmt seien, dass ein Übertritt ins EFZ nahtlos möglich sei. Zusätzlich zur Inhaltsvermittlung würden nämlich die übereinstimmenden Handlungskompetenzen aus dem EFZ geübt. Auch die EBA- und EFZ-Stufe der kaufmännischen Grundbildung seien mit der Reform inhaltlich und konzeptionell optimal aufeinander abgestimmt. Es bestünde so also genug Spielraum, um auf das individuelle Leistungsvermögen der Lernenden einzugehen.

Auf wessen Kosten geht die Reform?

Laut Jörg Pfister gebe es noch viele Detailfragen, die bisher nicht oder noch ungenügend geklärt seien. Einen Teilerfolg sieht er aber darin, dass man das Beibehalten der zweiten Fremdsprache als Pflichtfach durchsetzen konnte. Er hofft, dass die gewonnene Zeit genutzt werde, um das, was bisher in der KV-Ausbildung gut funktioniert, besser in die Reform einzugliedern. Er sieht folgende Lösung: Eine sinnvolle, lehr- und lernförderliche Verknüpfung von Fach- und Handlungskompetenzorientierung – sowohl inhaltlich als auch zeitlich. Damit soll ein Nachweis des fachspezifischen Wissens und Könnens der Berufslernenden gesichert sein. Ausserdem gelte es, die Kostenfrage zu klären. SKKAB schreibt, dass hier der Bund unterstützend mit Pauschal- und Projektförderungsbeiträgen wirkt. Ob die angedachte Reform schliesslich auf die eine oder andere Art auf Kosten der Lernenden geht, wird sich zeigen.

veröffentlicht: 2. August 2021 05:36
aktualisiert: 2. August 2021 05:36
Quelle: ArgoviaToday

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