«Herausragendste Persönlichkeit»

Berner Chefapotheker kämpft gegen Lieferengpässe – und wurde nun dafür geehrt

· Online seit 04.04.2023, 14:33 Uhr
Enea Martinelli ist Chefapotheker der Spitäler Frutigen Meiringen Interlaken. Wegen seiner Erfassung von Medikamentenlieferengpässen wurde er auch angefeindet. Nun wurde er zur «herausragendsten Persönlichkeit» der Schweizer Gesundheitsbranche 2022 gekürt. Martinelli spricht über seine langjährige Arbeit – und wie das Problem jetzt angegangen werden soll.
Anzeige

BärnToday: Vom Mangel betroffen sind aktuell 360 Wirkstoffe. 176 Medikamente fehlen vollständig bei allen Lieferanten. Bei weiteren über 800 Medikamenten gibt es zwar noch Alternative anderer Lieferanten, die Lieferbarkeit ist jedoch eingeschränkt. Was bedeutet das konkret?

Enea Martinelli: Ärzte und Apotheker müssen da Alternativen suchen. Entweder kann man andere Medikamente verschreiben oder man importiert, aber auch das wird immer schwieriger. Wir sind nicht die Einzigen mit diesem Problem. Alle Leistungserbringer bemühen sich, dass Patientinnen und Patienten adäquat versorgt werden. Aber: Wir werden weitgehend allein gelassen und das stört mich. In einer Blick-Schlagzeile wurde uns Apothekern kürzlich vorgeworfen, dass wir uns an diesem Thema eine goldene Nase verdienen. Das stimmt hinten und vorne nicht. Das zeigt, wie stark dem Thema Beachtung geschenkt wird – gar nicht.

Sie wurden vergangene Woche als «herausragendste Persönlichkeit» im Gesundheitswesen 2022 ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Extrem viel. Die Auszeichnung wird je zur Hälfte vom Publikumsvoting und von einer Jury bestimmt. Diesen Preis zu erhalten, bei namhaften Mitnominierten, tut extrem gut. Das ist eine riesige Anerkennung für meine Arbeit. Diese geht über 20 Jahre zurück – immer ging es dabei um die Versorgungssicherheit. Es war nicht immer einfach, weil ich verschiedensten Vorwürfen ausgesetzt war. Das ist jetzt eine Anerkennung für diese über 20 Jahre.

Ab wann haben Sie sich vertiefter mit diesen Medikamenten-Lieferengpässen beschäftigt?

Angefangen hat es mit der Einführung des eidgenössischen Heilmittelgesetzes. Es wurden neue Regelungen eingeführt, welche die gute Versorgung und die Flexibilität bei einem Versorgungsengpass sehr stark einschränkten. Darauf haben wir reagiert und gekämpft, bis das Gesetz revidiert wurde. Der Kampf ging es weiter, weil noch nicht alles geregelt war und die Verhältnisse immer schlimmer wurden. 2015 führte der Bund eine Meldeplattform ein, die nur einen Teil der Medikamente berücksichtigte. Das bewog mich dazu, die restlichen Medikamente selbst auf meiner Website «drugshortage.ch» zu erfassen. Mittlerweile mache ich das seit acht Jahren in meiner Freizeit. Jetzt zeigt sich, dass das einen gewissen Wert hat, weil sich die Situation weiter verschlimmert hat.

Wo genau liegt denn das Problem?

Es hat einen internationalen Zusammenhang, weil es heute für etwa ein Drittel aller patentfreier Wirkstoffe weltweit noch genau einen Hersteller gibt. Dadurch sind wir sehr abhängig vom Ausland und von einzelnen Herstellern. Wegen des kleinen Schweizer Marktes stehen wir bei verknappten Gütern relativ weit hinten an. Der kleine Vorteil der höheren Preise in der Schweiz ist, dass wir überhaupt noch Ware erhalten. Das ist eine Entwicklung, die ich düster sehe, wenn man keine Gegenmassnahmen trifft.

Was wollen Sie mit ihrer Website «drugshortage.ch» bezwecken?

Von Patienten, aber auch von Spitälern, geht der erste Vorwurf immer an die Apotheken, die nicht funktionieren. Das wollte ich nicht auf mir und meinen Kolleginnen und Kollegen sitzen lassen. Ich wollte aufzeigen, wo das eigentliche Problem liegt. Das Unverständnis bei den Leuten, die Medikamente brauchen, war jahrelang sehr gross. Zudem sollte es als Informationsmedium dienen für Personen, welche die Medikamente verordnen, damit sie direkt sehen, was lieferbar ist und was nicht.

Für Ihre Website mussten Sie viel Kritik einstecken, man drohte Ihnen auch mit Klagen. Woher kommen diese Stimmen?

Am Anfang wurde ich von der Industrie kritisiert, die mich als Feind gesehen hat, weil ich Transparenz hergestellt habe. Das ist bei einigen immer noch so. Es gibt auch politische Kreise, die mir vorwerfen, das nur für die Industrie zu machen und von ihr finanziert zu werden. Das stimmt nicht, aber damit lebe ich halt. Dann gibt es noch Krankenkassen, die finden, dass ich Polemik mache und mit der Angst von Patientinnen und Patienten spiele.

Wie hat sich Ihre Plattform in den letzten Jahren verändert?

Am Anfang waren es zwei Firmen, die ihre Medikamente selbst gemeldet haben. Den Rest habe ich in meiner Freizeit ergänzt. Das mache ich immer noch, auch in meinen Ferien. Heute sind es rund 40 Firmen, die ihre Medikamente melden. Es kommen immer mehr dazu, im Moment fast jeden Monat eine. Das ist eine gute Entwicklung, weil auch die Firmen einsehen, dass man die Leute informieren muss. Früher hat man das Problem ausgesessen und uns Apotheker damit alleingelassen. Wir konnten diese Engpässe dann zusammen mit den Ärztinnen und Ärzten ausbaden und waren dem völlig ausgeliefert. Jetzt ist immerhin die Einsicht da, auch das Firmen voneinander sehen, was überhaupt lieferbar ist.

Sie haben immer wieder Angebote von Leuten erhalten, welche ihnen die Website abkaufen wollten. Weshalb haben Sie einen Verkauf bisher abgelehnt?

Ich will nicht, dass das ein kommerzielles Projekt wird. Mit so einer Situation sollte man kein Geld machen. Wenn das kommerziell wird, gäbe es ein «Riesengstürm». Für wissenschaftliche Zwecke stelle ich die Informationen gerne zur Verfügung. So gab es bereits Projekte mit der Fachhochschule Bern, der Universität Basel, der Universität Genf und der Universität Duisberg/Essen. Man sollte aus den Daten etwas machen, mit dem man die Situation verbessern kann.

Sie kritisieren, dass sich niemand für die Versorgungssicherheit verantwortlich fühlt. Was müsste man denn konkret ändern?

Gemäss der Verfassung sind in der Normalsituation die Kantone für die Versorgung zuständig. Es ist aber schlicht nicht möglich, dass der Kanton Bern für die Bevölkerung Ibuprofensirup zur Verfügung stellt. Sämtliche Bedingungen, die etwas helfen könnten, befinden sich auf Ebene des Bundes. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sagt, dass die Kantone verantwortlich sind. Die Kantone wiederum verweisen auf den Bund. Dann erwidert das BAG, dass das Bundesamt für wirtschaftliche Landesversorgung (BWL) verantwortlich sei. Dieses hat zwar etwas Einfluss, aber im Rahmen eines eng definierten Auftrags. Das BWL verweist auf die Industrie. Die Industrie sagt, dass man unter diesen Rahmenbedingungen nicht arbeiten und die Situation verbessern könne, also ist der Ball zurück beim Bund. Effektiv ist niemand zuständig und verantwortlich für die Konsequenzen ihrer eigenen Handlungen. Die Konsequenzen müssen wir ausbaden, sprich Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker und letztlich Patienten. Das muss man dringendst ändern.

Sie sitzen im Initiativkomitee zu Volksinitiative «Ja zur medizinischen Versorgungssicherheit». Was erhoffen Sie sich davon?

Ich erhoffe mir, dadurch mehr Druck machen zu können und dass wir dem Thema endlich eine höhere Beachtung schenken. Wir sind offen für konstruktive Vorschläge. Wir wollen einen Dialog starten. Selbstverständlich hat man einen Text formuliert, der verfassungstauglich ist und die Probleme zur Versorgung beschreibt, aber für mich ist der Text eher nebensächlich.

Was fordern sie persönlich?

Jeder Medikamentenhersteller sollte zwei Wirkstoffquellen auf zwei verschiedenen Kontinenten haben. So sind wir nicht von geopolitischen Auseinandersetzungen abhängig. China braucht beispielsweise keine Atombomben: Wenn China die Grenzen zumacht, dann haben wir den Salat. Es ist eine böse Bemerkung, aber das ist aktuell die Situation. Bei einem Herzmedikament hatten wir vor etwa drei Jahren so einen Fall. Ein Hersteller hatte einen Wirkstoff zu stark gekocht, es gab Nebenprodukte, die über dem Grenzwert lagen. So stand der Wirkstoff über mehrere Wochen nicht mehr zur Verfügung. Davon waren 80 Prozent des Weltmarktes betroffen. Diese Entwicklungen machen mir ernsthafte Sorgen.

An welchen Medikamenten mangelt es aktuell besonders und wie blicken sie in die Zukunft?

Die Antibiotika sind aktuell das grösste Problem. Diese Situation sollte sich bessern, wenn sich der Winter legt. Die Frage ist, was wir im nächsten Winter machen. Das grundlegende Problem der Herstellung und der riesigen Abhängigkeit von mässig zuverlässigen Lieferketten wird jedoch kurzfristig nicht gelöst werden können. Würde man jetzt sofort anfangen, wäre eine Entlastung in vier bis fünf Jahren möglich. Patientinnen und Patienten müssen sich aber keine grossen Sorgen machen: Wir Apotheker und Ärztinnen setzen alles daran, dass die Versorgung klappt – obwohl wir die ganze Zeit von verschiedenen Kreisen auf die Kappe kriegen. Das stört, aber unser Ziel ist die gute Versorgung. Und daran halten wir weiterhin fest.

veröffentlicht: 4. April 2023 14:33
aktualisiert: 4. April 2023 14:33
Quelle: BärnToday

Anzeige
Anzeige
argoviatoday@chmedia.ch