Denn wenn es dazu komme, dass auch geimpfte und genesene Personen in ihrer Freiheit wieder stärker eingeschränkt würden, dann stelle sich die Frage, wie sich dies rechtfertigen lasse, sagte Christian Althaus von der Universität Bern im Interview mit der «NZZ» vom Donnerstag. «Es darf nicht sein, dass die Ungeimpften die Gesellschaft in Geiselhaft nehmen.»
Von einer 2G-Regel - einer Zulassungsbeschränkung nur für Ungeimpfte - hält Althaus nicht viel. Die epidemiologischen Auswirkungen seien schwierig abzuschätzen. Er befürchtet zudem, dass sich ungeimpfte Personen dann an anderen Orten treffen und dies die Ausbreitung des Coronavirus sogar noch beschleunigen könnte. Dadurch ginge die Kontrolle über das Geschehen noch schneller verloren, sagte Althaus.
Es sei aber auch schwierig, den Effekt der 3G-Regel zu quantifizieren. Aus seiner Sicht ist es primär ein Mittel, um Geimpften, Genesenen oder Getesteten ein einigermassen sicheres Umfeld zu bieten und Schliessungen zu verhindern. Althaus plädiert dafür, diese Massnahme beizubehalten und gleichzeitig das Testen wieder zu intensivieren. Aus diesem Grund fände er es sinnvoll, wenn die Tests wieder bezahlt würden.
Gleichzeitig sollte aber die Gültigkeit der Tests verkürzt werden, auf 24 Stunden für Antigentests und 36 Stunden für PCR-Tests. Nach 72 Stunden habe ein PCR-Test nur noch wenig Aussagekraft.
Mehr Vorsicht im Privaten
Über eine Impfpflicht müsse man gar nicht erst diskutieren, sagte Althaus zudem. Dafür fehle in der Schweiz die gesetzliche Grundlage. Allerdings erlaube das Epidemiengesetz ein Impfobligatorium für bestimmte Berufsgruppen. «Ein vorübergehendes Impfobligatorium im Pflegebereich ergibt zum Schutz der Patienten sicher Sinn und ist wohl prüfenswert», sagte Althaus.
Zudem müsse auch im Privaten wieder mehr Vorsicht walten lassen. «Diesen Winter ist Zurückhaltung angebracht. Man sollte nicht zu viele Menschen in einem ungeschützten Rahmen treffen», mahnte der Epidemiologe. Zudem müsse man Innenräumen stärker auf eine gute Durchlüftung achten. Das sei zu Beginn der Pandemie zu wenig im Fokus gewesen. Die Aerosolübertragung des Virus sei das grössere Problem als eine ungenügende Handhygiene.
Kritische Situation an Weihnachten?
Solange nicht praktisch die gesamte Bevölkerung geimpft oder durch Ansteckung immunisiert sei, sei diese Krise nicht vorbei. «Wir sind nach wie vor mitten in diesem Prozess. Es können sich weiterhin über eine Million Menschen anstecken, mit dem Risiko einer schweren Erkrankung. Wir sind noch nicht aus der Gefahrenzone heraus. Bei der aktuellen Lage könnten wir spätestens bis Weihnachten wieder in eine kritische Situation kommen».
Althaus schätzt, dass sich «vermutlich» im nächsten Frühling eine breite Immunität einstellen könnte. «Wir können dann auf stärkere Massnahmen verzichten, aber mildere Massnahmen wie die Maskenpflicht könnten durchaus noch eine Weile bestehen bleiben.»
Sobald die Immunisierung der Bevölkerung abgeschlossen sei, drohe vermutlich keine Überlastung des Gesundheitssystems mehr. Dann könne die Schweiz die Massnahmen aufheben. Das heisse aber nicht, dass Corona für die Spitäler nicht weiterhin eine Belastung darstelle. «Ich kann mir vorstellen, dass wir in Zukunft immer etwa 50 bis 200 Patienten wegen Covid auf den Intensivpflegestationen haben werden», sagte er. Das lasse sich bewältigen, aber die Spitäler müssten sich an die neue Realität anpassen.