Klima

Eine «Netto-Null-Welt» ist machbar - doch handeln ist dringlich

· Online seit 04.04.2022, 17:13 Uhr
Die Welt steht an einem Scheideweg: Die technologischen, wirtschaftlichen und politischen Hürden sind gefallen, damit netto keine Treibhausgase mehr in die Atmosphäre gelangen. Doch dafür muss der Weg in diese Richtung deutlich entschiedener beschritten werden.
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Zu diesem Schluss kommt der Weltklimarat (IPCC) in seinem am Montag vorgelegten dritten Teil des sechsten Sachstandberichts.

Die Weltgemeinschaft hatte sich im Pariser Klimaabkommen 2015 darauf geeinigt, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Um das Ziel zu erreichen, muss der Ausstoss der Treibhausgase bereits vor 2025 seinen Höhepunkt erreicht haben, so das Expertengremium. Nur: Die durchschnittlichen jährlichen globalen Treibhausgasemissionen lagen im vergangenen Jahrzehnt so hoch wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte.

Der neue Bericht zeigt aber auch, dass das Ruder noch herumgerissen werden könnte. Denn immerhin haben sich die Wachstumsraten der Emissionen verlangsamt, in den meisten Industrieländern scheint eine Trendwende eingetreten zu sein. Zudem kenne man heute die Instrumente und besitze das Knowhow, um den Treibhausgasausstoss in allen Sektoren bis 2030 mindestens zu halbieren, so die Forschenden. Vorausgesetzt, dass unverzüglich gehandelt werde.

278 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus 65 Ländern begutachteten für den Klimabericht über 18'000 wissenschaftliche Publikationen. Sie arbeiteten auf, wie man die Treibhausgasemissionen senken und den Klimawandel stoppen kann.

«Möglichkeiten so gut wie nie zuvor»

«Der Übergang wäre sanfter gewesen, wenn man damit vor 20 oder 30 Jahren begonnen hätte», sagt Julia Steinberger, Professorin an der Universität Lausanne und eine der Hauptautorinnen des Berichts gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Aber das Positive sei, dass die Möglichkeiten für eine klimaneutrale Welt heute so gut seien wie nie zuvor.

Dies illustriert auch ein Beispiel von Anthony Patt, Professor für Klimaschutz und -anpassung an der ETH Zürich und ebenfalls ein Hauptautor: Inzwischen gebe es rund zwanzig Länder, die seit mindestens einem Jahrzehnt sinkende Emissionen bei wachsender Wirtschaft verzeichnen. «Auch für Entwicklungsländer ist es machbar, wirtschaftlich zu wachsen, die Lebenserwartung zu steigern und gleichzeitig Emissionen zu senken», so sein Fazit.

Grüne Energie ist wettbewerbsfähig

Hoffnung, dass die grüne Transformation gelingen kann, macht etwa, dass Solar- und Windenergie heute wettbewerbsfähig gegenüber fossilen Brennstoffen sind. Seit 2010 sind die Kosten für die Nutzung dieser Energiequellen sowie für Speicherbatterien nachhaltig um bis zu 85 Prozent gesunken. Diese Entwicklung erlaubt es, den tiefgreifenden Wandel im Energiesektor wirtschaftlich attraktiv zu vollziehen.

Zudem hat eine wachsende Zahl von politischen Massnahmen und Gesetzen die Energieeffizienz verbessert, die Abholzungsrate verringert und den Einsatz erneuerbarer Energien beschleunigt.

Zu wenig Geld für grüne Technologien

Allerdings findet die grüne Transformation bislang zu langsam statt: Um die Klimaziele zu erreichen, braucht es bis 2030 ein drei- bis sechsmal höheres Investitionsvolumen als bisher in den Klimaschutz. In Europa müssten die Investitionen um das zwei- bis vierfache erhöht werden.

Die wichtigsten Stellschrauben für die Schweiz sieht Patt im Gebäude- und Mobilitätssektor. Hier müsse der fossile Energiebedarf massiv reduziert werden, was aufgrund der vorhandenen Technologien rasch erreicht werden könne, sagte er anlässlich einer Medienkonferenz von der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz (SCNAT).

Chancen für die Schweiz

Gemäss Stefano Battiston, ebenfalls einer der Berichtsautoren, ist die Kooperation des Finanzsektors mit Politik und Wirtschaft denn auch entscheidend, um die Massnahmen zur Eindämmung des Klimawandels wirksam zu implementieren: «Wenn das Finanzsystem nicht daran glaubt, dass die Dekarbonisierung entschlossen angegangen wird, fliesst zu wenig Geld in die kohlenstoffarme Transformation», sagt der Experte für nachhaltige Finanzsysteme, der Professor an den Universitäten Zürich und Venedig ist. Das Risiko für entsprechende Investitionen werde schlicht als zu hoch oder als vergleichbar hoch wie fossile Investitionen angesehen.

Gerade für die Schweiz ergäben sich Battiston zufolge aber viele Chancen, wenn der hierzulande äusserst starke Finanzsektor die Klimapolitik unterstützte: «Zum einen können so mehr Investitionen in Anpassungsmassnahmen gegen die Auswirkungen des Klimawandels fliessen», so der Forscher. Dazu gehört beispielsweise die Begrünung von Städten, um Hitzewellen zu mindern oder Investitionen in ein nachhaltiges Wassermanagement bei zunehmender Sommertrockenheit. Zum anderen könnte mehr Geld für die Entwicklung von grünen Technologien bereitgestellt werden. «Dadurch würde die Schweiz eine prestigeträchtige Vorreiterrolle einnehmen können.»

Battiston weist zudem darauf hin, dass Investitionen in Entwicklungsländer noch mit einer hohen Risiko-Wahrnehmung verbunden seien, was die grüne Transformation in diesen Ländern bremse. Abhilfe schaffen könnten unter anderem Entwicklungsbanken, um Investitionen attraktiver zu machen. Dass die reichen Länder die ärmeren unterstützen müssten, sei klar - und schlussendlich eine Win-Win-Situation: «Die Klimaerwärmung ist ein globales Problem, das nur global gelöst werden kann», sagt Battiston.

(red.)

veröffentlicht: 4. April 2022 17:13
aktualisiert: 4. April 2022 17:13
Quelle: sda

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