Ethikprofessor erklärt

Fasnachtsabsagen machen die Deutschen nicht zu besseren Menschen

04.03.2022, 12:34 Uhr
· Online seit 04.03.2022, 11:01 Uhr
In Deutschland wurden einige Karnevalsveranstaltungen wegen des Ukraine-Krieges abgesagt. Wieso die Deutschen trotzdem nicht bessere Menschen sind und wieso die zögerliche Haltung des Bundesrates ethisch falsch war, erklärt Ethikprofessor Peter Kirchschläger im grossen Interview.
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Während in der Zentralschweiz in den letzten Wochen Konfetti durch die Strassen flogen, waren es in der Ukraine Kugeln und Bomben. Ist es ethisch richtig, dass wir trotz des Leids in der Ukraine hier vor allem Guuggenmusig, Kostüme und einige Kafi-Schnaps im Kopf hatten und ist es heuchlerisch, dass wir uns diese Frage viel lauter stellen, wenn das Blutvergiessen praktisch vor der eigenen Haustür passiert? Wir haben dem Ethikprofessor der Universität Luzern Peter Kirchschläger genau diese Fragen gestellt.

Tausende feierten in den vergangenen Tagen die Fasnacht, während zur gleichen Zeit in der Ukraine tausende Menschen dem Tod ins Auge blicken müssen. War dies ethisch und moralisch korrekt oder bin ich deswegen ein schlechter Mensch?

Nein, ein schlechter Mensch sind Sie auf keinen Fall; Ihre Handlungen könnten richtig oder falsch gewesen sein. Man kann zwar durchaus ethische Gründe für eine Absage der Fasnacht finden. Wenn man sich in Form eines Denkmodells in die Menschen in der Ukraine hineinzuversetzen versucht, ist es für diese sicherlich befremdlich, wenn sie sehen, dass wir hier Fasnacht feierten und bei ihnen Krieg herrscht. Gleichzeitig ist es auch ethisch begründbar, dass wir dies als Gesellschaft in die Verantwortung jedes Einzelnen legten, gerade weil erst kurz zuvor die Corona-Massnahmen aufgehoben worden sind. Das muss man auch berücksichtigen.

In Köln wurde hingegen Karnevalsveranstaltungen abgesagt. Hat man in Deutschland andere moralische Vorstellungen als in der Schweiz?

Ich denke nicht, dass man in Deutschland andere Moralvorstellungen hat. Sie sind einfach bei denselben Überlegungen wie in der Schweiz auf ein anderes Resultat gekommen. Beide Schlussfolgerungen haben eine ethische Plausibilität.

Das hat also nichts mit der Geschichte Deutschlands zu tun?

Historische Erfahrungen haben einen Einfluss auf die Bewertung von Realitäten und auf unsere Wertvorstellungen. Gleichzeitig muss das Ziel in der Ethik sein, dass man das, was man als ethisch richtig und gut bezeichnet, allgemeingültig begründbar sein sollte. Dies relativiert die Rolle von historischen Erfahrungen in der ethischen Bewertung.

Sie sagen, dass die Ethik die Dinge verallgemeinerbar erfasst. Ich frage Sie dennoch, muss sich zum Beispiel die Zuger Politik und Bevölkerung andere Fragen stellen aufgrund der wirtschaftlichen Verbindungen zu Russland als andere Kantone?

Ja, es stellen sich andere ethische Fragen aufgrund der direkten wirtschaftlichen Verbindungen des Kantons Zug, da durch die Verbindungen eine andere Macht und einen anderen Einfluss besteht. Dies führt schlussendlich zu einer besonderen Verantwortung, da man als Kanton Zug einen stärkeren Einfluss hat. Daher ist in dieser Kriegssituation im Kanton Zug mehr Handlungsbedarf vorhanden als in einem Kanton, der nicht diese direkten wirtschaftlichen Verbindungen zur aktuellen russischen Regierung hat.

Auch der Bundesrat musste sich die Frage stellen, ob Handlungsbedarf besteht. Er hat die EU-Sanktionen nicht sofort übernommen. Wie beurteilen Sie das Verhalten des Bundesrates?

Wenn sich der Bundesrat sofort den internationalen Sanktionen angeschlossen hätte, wäre dies aus ethischer Sicht die richtige Entscheidung gewesen. In Anbetracht der eklatanten Völkerrechtsverletzung, wie sie durch diesen russischen Angriffskrieg vorliegt, darf man Neutralität aktiv gestalten. Neutralität heisst nicht Passivität. Durch das Zuwarten hat der Bundesrat aus meiner Sicht zunächst ethisch falsch gehandelt und dies erst nach einigen Tagen korrigiert. Dies jedoch wegen des grossen internationalen Druckes und nicht aus ethischen Gründen.

Wie kommt man aus ethischer Sicht zum Schluss, dass das Zuwarten ethisch nicht richtig war?

Um zu bewerten, ob etwas ethisch die richtige oder falsche Handlung ist, können wir Argumente als Begründung aufführen. Die Einhaltung der Menschenrechte ist beispielsweise ethisch begründbar. Ohne die Übernahme der Sanktionen durch die Schweiz könnte Russland die Sanktionen einfacher umgehen, und die Sanktionen würden dadurch nicht dazu führen, dass Russland den Krieg und somit auch die Menschenrechtsverletzungen beendet. Zudem bestünde das Risiko, dass ein wirtschaftlicher Profit für die Schweizer Wirtschaft aus dieser Situation entstünde.

Kann aus ethischer Sicht das Argument vorgebracht werden, dass, wenn die Schweiz sich den Russen verschliesst, diese sich einfach einen anderen Partner suchen und somit niemandem geholfen ist?

Solch pragmatische Überlegungen müssen in die ethische Beurteilung einbezogen werden. Sie dürfen diese jedoch nicht dominieren. Man muss bei wirtschaftlichen Sanktionen von einem ethischen Standpunkt aus genau darauf achten, dass diese wirken sowie nicht umgangen werden und nicht die Bevölkerung, sondern die Machthabenden treffen. Die ethische Bewertung umfasst auch, wie man etwas mit ethisch akzeptablen Mitteln stoppen kann, das aus ethischer Sicht als inakzeptabel bewertet wurde – wie der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Daher sind wirtschaftliche Sanktionen aus ethischer Sicht militärischen vorzuziehen.

Welche Hilfsmittel kann die Ethik der Politik zur Lösung derartigen Konflikte mitgeben?

Die Ethik kann der Politik ethische Prinzipien und Normen und deren Begründung als Orientierungshilfe mitgeben. Zum Beispiel, dass es notwendig wäre, dass der Bundesrat den eigenen moralischen Kompass repariert und neu ausrichtet. Hier kann die Ethik als Wissenschaft mithelfen, damit es in Zukunft nicht mehr geschieht, dass die Schweiz bei ethisch begründbaren internationalen Sanktionen zunächst einige Tage abwartet und sich diesen dann nicht aus ethischen Gründen, sondern wegen des internationalen Druckes anschliesst. Denn Zeit spielt hier eine grosse Rolle. Ein weiterer Beitrag der Ethik ist es, politisches Handeln ständig kritisch zu hinterfragen.

Hat es etwas mit unseren Moralvorstellungen zu tun, dass die Solidarität für die Ukraine bei uns grösser ist als bei Konflikten, die zeitgleich im afrikanischen oder arabischen Raum geführt werden und ist dies moralisch verwerflich, rassistisch oder doch einfach menschlich? 

Ich würde sagen, dass dies auf die Nähe und die Aktualität zurückzuführen ist, dass wir uns im Moment primär mit dem Ukraine-Krieg beschäftigen. Man sollte sich jedoch immer wieder kritisch hinterfragen, wie die weltweite Situation aussieht: Gibt es noch andere Konflikte, wo ich als Einzelne oder als Einzelner, unser Staat und unsere Wirtschaft eine Verantwortung haben und was wir dazu beitragen können, dass auch dort die Kampfhandlungen umgehend gestoppt werden?

Welchen Einfluss haben die Medien in Bezug auf die Solidarität mit Krisengebieten?

Die Medien beeinflussen, wie wir die Realität wahrnehmen. Diese Wahrnehmung der Realität ist der Ausgangspunkt einer ethischen Bewertung. Diesbezüglich haben die Medien eine grosse Verantwortung und spielen gerade in demokratischen Staaten eine wesentliche Rolle in der demokratischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Die ethische Verantwortung der Medien liegt auch darin, dass sie gestaltend wirken können bezüglich der Themen, die Schlagzeilen machen. Dabei müssen sie auch darauf achten, dass sie mit ihrer Themensetzung den Blick öffnen für Konflikte, die gerade weniger im Fokus sind.

Wird die Schweizer Bevölkerung in Zukunft früher eine klare Haltung der Politik verlangen?

Ich hoffe es, weil es aus ethischer Sicht notwendig ist, dass man in Zukunft konsequenter hinschaut und dass Staaten und Unternehmen die Einhaltung der Menschenrechte als Bedingung für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit setzen. Dazu hat man rechtstaatliche Instrumente, wie zum Beispiel das von der EU-Kommission vorgeschlagene Konzernverantwortungsgesetz, das eine positive Veränderung bringen könnte.

Wie beurteilen Sie, dass in vielen europäischen Ländern wieder mehr Geld in Armeematerial fliessen soll?

Es ist aus ethischer Sicht eine negative Konsequenz des Ukraine-Krieges, dass Aufrüstung als Option wieder stärker auf dem Tisch liegt. Ein Krieg ist auch ein Scheitern der Politik, der Diplomatie und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit. Daher muss man aus meiner Sicht nicht aufrüsten, sondern kritischer hinterfragen, was man politisch, diplomatisch und insbesondere in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit besser machen kann, damit Diktatoren früher die Grenzen aufgezeigt werden sowie Menschenrechtsverletzungen und Krieg verhindert werden können.

veröffentlicht: 4. März 2022 11:01
aktualisiert: 4. März 2022 12:34
Quelle: PilatusToday

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