Gemäss dem Bundesamt für Justiz gibt es in rund 50 Justizvollzugsanstalten (JVA) in der Schweiz Plätze für Frauen und insgesamt neun Plätze für Mütter mit Kindern. Die meisten dieser Mutter-Kind-Plätze befinden sich in Vollzugseinrichtungen, die speziell für Frauen sind. Schweizweit gibt es vier Justizvollzugseinrichtungen für Frauen. Die grösste der Schweiz und einzige JVA für Frauen überhaupt in der Deutschschweiz befindet sich in Hindelbank im Kanton Bern. Dort sind aktuell fünf Mütter mit sechs Kindern untergebracht. Doch wie sieht der Alltag für Kind und Mutter in der JVA aus? Wir haben beim grössten Frauengefängnis der Schweiz nachgefragt.
Gefängnis ist nicht gleich Gefängnis
Während viele beim Wort Gefängnis an graue, enge Zellen denken, sieht die Realität etwas anders aus. Nur die Gitterstäbe an den Fenstern lassen erahnen, dass es eine Justizvollzugsanstalt ist, erzählt Annette Keller, Direktorin der JVA Hindelbank, über die Wohngruppe Mutter-Kind. Dass Gefängnis nicht gleich Gefängnis ist, erklärt auch Oliver Aebischer, Leiter Kommunikation der JVA Hindelbank. «Umgangssprachlich wird zwar zwischen JVA und Gefängnis kein Unterschied gemacht, aber in einer JVA sind Insassinnen in einem ganz anderen Setting als in einer Untersuchungs- oder Sicherheitshaft, welche eher dem Klischeebild des Gefängnisses entsprechen.»
Zimmer statt Zelle
Die Wohngruppe Mutter-Kind in Hindelbank befindet sich in zwei ehemaligen Personalhäusern und hat für insgesamt zehn Frauen Platz. Davon sind sechs Plätze für Mütter mit bis zu acht Kinder gedacht. Dabei funktioniere die Wohngruppe wie eine Wohngemeinschaft. Jede Frau hat ihr eigenes Zimmer, aber Aufenthaltsraum und Toiletten werden geteilt. «Die Mütter sind mit ihren Kindern zusammen im Zimmer», stellt Keller klar. Es gibt zwar eine Küche in der Wohngruppe, aber das Essen werde grundsätzlich von der Zentralküche geliefert. Wenn die Kinder aber noch zu jung sind, dasselbe zu essen, sind die Mütter selbst für die Ernährung des Kindes zuständig. Alles, was die Kinder benötigen, werde aber von der JVA kostenlos zur Verfügung gestellt. Ein entscheidender Unterschied zu den anderen Zellen in der JVA ist, dass die Zimmer der Frauen nachts nicht verschlossen sind. «Das ist, damit es der Mutter möglich ist, nachts mit dem Kind auf die Toilette zu gehen oder das Fläschchen zuzubereiten», erklärt Keller.
Quelle: TeleZüri / Das Frauengefängnis in Dielsdorf / vom 3.11.22
Mutter geht zur Arbeit
Um 7 Uhr müssen die Mütter aufstehen und sowohl sich für die Arbeit als auch ihr Kind für die Kita bereit machen. Während die Mütter dann von 8 Uhr bis 12 Uhr und von 13 Uhr bis 16 Uhr in der JVA einer Arbeit nachgehen, verbringen die Kinder die Zeit in einer Kita im Dorf. «Das Ziel ist es, dass Frauen und Kinder möglichst einen normalisierten Alltag haben und das heisst heutzutage nicht mehr, einfach zu Hause bei den Kindern zu sein, sondern eben auch einer Arbeit nachzugehen», führt die Direktorin aus. Von Wäscherei über Küchendienst bis zu Gartenarbeit, die Frauen arbeiten in verschiedenen Bereichen der JVA.
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Kind wird in die Kita gebracht
Die Kinder werden von einer Betreuerin in die Kita in der Gemeinde gebracht. «Am Anfang hatten wir Bedenken, ob die anderen Kinder jene aus der JVA ausschliessen würden, das hat sich aber zum Glück nicht bestätigt», berichtet Keller. Sowohl die Kita-Betreuenden als auch die anderen Eltern wissen, dass die fünf Kinder in der JVA leben. «Die Leute kennen den Bus, da gab es aber zum Glück nie Probleme. Die Kita-Betreuenden werden darüber informiert, weil das Team der Mutter-Kind-Wohngruppe natürlich im stetigen Austausch mit ihnen ist», erklärt Keller. Um 16 Uhr werden die Kinder wieder abgeholt und zur Mutter gebracht, ab dann startet wieder die Pflege- und Erziehungszeit durch die Mutter. «Die Mutter macht dann alles mit dem Kind, was sie auch in normalen Begebenheiten tun würde, sie macht das Essen, spielt mit dem Kind, bringt es ins Bett», so Keller. Von 7 Uhr bis 21 Uhr ist jeweils eine Sozialarbeiterin vor Ort, danach sind andere Mitarbeitende anwesend, welche ebenfalls eingreifen und unterstützen könnten.
Auf die Frage, ob das Kind die JVA verlassen kann, um beispielsweise mit den Grosseltern einen Ausflug zu machen, antwortet Keller: «Das Kind ist nicht im Strafvollzug, sondern die Mutter.» Ob das Kind auf den Ausflug oder auch in die Ferien darf, entscheide aber die Mutter. «Nur weil die Mutter in der JVA ist, verliert sie nicht gleich das Sorgerecht», erklärt Keller. Die Mutter muss bei der JVA nur unterzeichnen, dass dies auch in ihrem Sinne ist, danach stehe dem Urlaub oder Ausflug für das Kind nichts im Wege. Anders ist es aber bei Besuchen in der JVA. Denn da gilt die Regel: «Drei Mal im Monat für je zwei Stunden können Besuchende in die JVA kommen», sagt die Direktorin. Die Regeln über den Besuch innerhalb der JVA werden also vom Justizvollzugsgesetz bestimmt, aber die Regeln über den Besuch des Kindes ausserhalb der JVA von der Mutter.
Und wenn das Kind das Maximalalter erreicht?
Bis die Kinder drei Jahre alt sind, können sie mit der Mutter in der Wohngruppe leben, danach muss eine andere Lösung gefunden werden. «Das ist höchst selten und kam zuletzt vor sieben oder acht Jahren vor», so Keller. In den allermeisten Fällen verlassen Mutter und Kind die JVA gemeinsam, wenn das allerdings nicht möglich ist, werde mit der Mutter gemeinsam nach einer Lösung gesucht. Die Varianten seien unterschiedlich. Falls Grosseltern oder andere Familienmitglieder keine Option sind, werde auch eine Fremdplatzierung bei Pflegefamilien in der Umgebung oder in einem Kinderheim überprüft. «Es wird mit der Mutter die beste Option gesucht. Bei einer Fremdplatzierung wird zudem mit der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) zusammengearbeitet», so Keller.
Es gibt allerdings auch kritische Stimmen zu diesem Modell. Im Grunde genommen sei es aber wie bei jeder anderen Familie, die Schwierigkeiten mit der Kinderbetreuung habe. Grundsätzlich entscheidet die Mutter, welche Platzierung die beste für das Kind ist. Die Kesb unterstützt bei der Entscheidung, falls beispielsweise eine Fremdplatzierung notwendig wird. Das hänge aber immer von der Situation und Betreuungsmöglichkeiten der Mutter ab. «Man muss immer überlegen, wo die beste Platzierung des Kindes ist, und in der Regel geht man davon aus, dass das bei einem Kleinkind bei der Mutter ist. Deswegen gibt es die Mutter-Kind-Wohngruppe in Hindelbank», erklärt Aebischer. «Wir haben den Eindruck, dass es den Kindern in der JVA so gut geht, wie es ihnen auch draussen gehen kann. Es sind einfach andere Umstände, aber unsrer Ansicht nach ist es für die Kinder ein guter Lebensort», sagt Keller abschliessend.