Exit

«Ich begleite dich» – wenn Menschen den Freitod wählen

· Online seit 26.02.2023, 07:02 Uhr
Über tausend Personen haben sich letztes Jahr für den begleiteten Freitod entschieden. Das zeigt eine Studie, die kürzlich veröffentlicht wurde. Eine davon war Kay-Yasmins Mutter. Sie kämpfte seit Jahren mit chronischen Schmerzen – und entschied sich Ende letzten Jahres mit Exit ihrem Leidensweg mit ein Ende zu setzen.

Quelle: ArgoviaToday / Severin Mayer

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Triggerwarnung: In diesem Artikel geht es um das Thema Freitod. Wenn dir das zu nahe geht oder du selbst davon betroffen bist, solltest du den Artikel eventuell nicht oder nicht alleine lesen.

«Ich möchte schlafen», waren die Worte von Kay-Yasmins Mutter, die der 39-Jährigen klar machten, dass es nun so weit ist. Wie geht man damit um, wenn sich die eigene Mutter freiwillig für den Tod entscheidet? Ein Interview über Abschied, Leid und Trauer – aber auch Versöhnung.

Der Weg der Akzeptanz

Es ist noch früh im Büro von ArgoviaToday, als Kay-Yasmin Schmid eintrifft. Wie so oft im Leben hat sie einen ihrer vierbeinigen Begleiter dabei: Die Hundedame Pumba. Die Stimmung ist locker, fast schon unbeschwert. Wäre da nicht das Wissen, dass das folgende Interview ziemlich emotional werden dürfte. Nur gerade fünf Wochen ist es her, seit Kay-Yasmins Mami ihrem Leben – und einem jahrelangen Leidensweg – mit der Sterbehilfeorganisation Exit ein Ende gesetzt hat.

Ursina Mühlethaler (ArgoviaToday): Es ist nun knapp fünf Wochen her, seit deine Mutter verstorben ist. Wie geht es dir?
Kay-Yasmin Schmid: «Ich verdrücke fast jeden Tag noch eine Träne, aber es gibt auch sehr viele tolle Momente. Irgendwie ist es immer noch so unglaublich surreal. Ich ertappe mich oft dabei, wie ich denke: ‹Komm, ich schreibe ihr noch schnell ein Whatsapp oder schicke ein Foto›. Und dann merke ich, sie ist ja gar nicht mehr da.»

Was tust du in solchen Momenten?
«Wir haben einen Familiengruppenchat, der weiterhin besteht. Darin sind mein Vater, mein Freund, ich und auch die Nummer meiner Mutter. Dort schicke ich weiterhin Nachrichten und Bilder. Oft teile ich solche Momente auch auf Social Media. Ich sage immer: Wenn ich meine Gefühle trotzdem loswerden kann – egal, ob sie positiv oder negativ sind – dann geht es mir danach besser.»

Tabuthema Exit

Wie stehst du persönlich zur Organisation Exit respektive zu legaler Sterbehilfe?
«Ironischerweise wurde ich sogar vor meinem Mami Exit-Mitglied. Ich finde es eine unglaublich gute Sache. Viele Leute haben einfach das Gefühl, Exit sei Sterbehilfe – es hat irgendwie so einen negativen Touch. Das hat es für mich persönlich aber nicht, weil man beispielsweise ja auch eine Patientenverfügung hinterlegen kann. Für mich war immer klar: Ich möchte mal – wenn es mir nicht mehr gut geht – selber entscheiden können, dass ich nicht mehr auf dieser Welt sein möchte.»

Hat sich durch den Tod deiner Mutter etwas an dieser Einstellung geändert?
«Irgendwie hat es mich fast ein wenig beruhigt. Also klar, es war eine unglaublich schwierige Situation. Aber ich durfte miterleben, wie so ein Prozess vor sich geht und auch wie erlösend so etwas sein kann. Klar hatte meine Mutter auch unglaublich Angst und es flossen viele Tränen – aber mir hat es letztendlich ein wenig die Angst vor dem älter werden genommen.»

Wie gehst du persönlich damit um, wenn du auf Menschen triffst, die deine Einstellung gar nicht verstehen oder teilen können?
«Man sollte Meinungen generell akzeptieren und einander immer Respekt entgegenbringen. Wenn jemand nicht Exit-Mitglied sein will, ist das für mich absolut ok. Was ich aber nicht verstehen kann, ist, wenn jemand auf mich zukommt und mir vorwirft, dass es egoistisch war, dass ich und mein Vater meine Mutter auf ihrem Weg mit Exit begleitet und unterstützt haben.»

Wie schwer war es für dich, den Wunsch deiner Mutter zu akzeptieren?
«Der erste Gedanke, den ich hatte, als sie am 13. Dezember den Entschluss gefasst hat, war: ‹Ich begleite dich›. Ich habe nicht eine Sekunde gedacht ‹Nein, ja nicht›. Ich wurde halt auch einfach fast 40 Jahre auf diesen Moment vorbereitet. Ich wusste immer, dass mein Mami anders ist als andere Mamis. Wir haben zu Hause immer sehr offen über den Tod und als Familie über Dinge geredet, die in anderen Familien oft totgeschwiegen werden.

Hattest du niemals den Gedanken: «Wie kann sie uns nur verlassen»?
«Nein. Wir haben sie leiden sehen. Ich kenne sie nicht anders als leidend – aber die letzten zwei bis vier Jahre wurde es drastisch schlimmer. Ihr Körper zerfiel, sie stürzte, hatte eine Blutvergiftung. Eine Frau, die immer so stark war, so zu sehen – das bricht dich. Den passenden Moment zum Sterben gibt es nicht. Aber für uns (Kay-Yasmin und ihren Vater, Anm. d. R.) hätte sie keinen besseren wählen können.»

Überspitzt gefragt: Hattest du jemals das Gefühl, Exit nimmt mir gerade mein Mami weg?
Nein, ich dachte wenn dann: ‹Exit erlöst mein Mami›. Ich bin unglaublich froh, dass es so eine Organisation gibt. Es wäre nicht mehr so weitergegangen. Böse gesagt war es für alle eine Erlösung – auch wenn es sehr sehr schwer war und immer noch schmerzt.»

Ein Abschied mit Ankündigung

Wie hast du den Moment erlebt, in dem sie euch mitgeteilt hat, dass sie sterben wird?
«Als die Corona-Pandemie begann, hat sie sehr klar kommuniziert, dass eine Ansteckung kein Grund wäre, sie nicht zu besuchen. Sie hat quasi gesagt: ‹Kommt trotzdem, ich will Corona, weil dann muss ich nicht mehr leben›. Das war vor fast drei Jahren – dort wurde mir das erste Mal bewusst, dass sie nicht mehr will. Dass sie bereit ist, zu gehen. Am 13. Dezember letzten Jahres kam dann eine Sprachnachricht in unseren Gruppenchat, in der sie uns gesagt hat, dass sie mit Exit telefoniert hat.»

Was ging dir da durch den Kopf?
«Ich weiss noch genau, dass ich auf dem Boden sass und geheult habe wie ein Schlosshund. Ich war darauf vorbereitet, ich wusste, dass dieser Moment kommen würde – aber wenn es dann so weit ist, dann haut es dich komplett um.

Hand in Hand bis zum letzten Atemzug

Wie hast du die letzten Momente mit deinem Mami erlebt? 
«Sie wurde ab dem Zeitpunkt, an dem sie den Wunsch geäussert hat, mit Exit zu sterben, eng begleitet. Trotzdem hätte sie jederzeit noch sagen können: ‹Ich will das doch nicht›. Am Tag, als sie eingeschlafen ist, haben wir uns zu Hause getroffen und kurze Zeit später kamen Arzt und Sterbebegleiterin. Die beiden haben sich alle Zeit der Welt genommen, mein Mami aber hat gesagt: ‹Können wir bitte vorwärts machen?› Man hat gemerkt, dass sie Angst hat. Sie hat geweint und gezittert.»


Du willst mehr darüber wissen, wie Exit Menschen in den Tod begleitet? Hier findest du ein Interview mit einer Sterbebegleiterin. 


Was fühlt man in der Sekunde, in der man weiss, mein Mami ist jetzt nicht mehr da?
«Leere. Ich würde sagen Leere. Was mich am meisten gestört hat in dieser Situation, war, dass man von so vielen Leuten immer hört, dass man es spürt im Raum, wenn jemand geht. Dass es irgendwie hell wird, dass es warm wird, dass dieser Mensch noch irgendwo ist – und ich habe einfach nichts gespürt. Bis heute nicht. Dafür darf ich mir aber glaube ich keinen Vorwurf machen.»

Was möchtest du Menschen, die jemanden im Umfeld haben, der mit Exit sterben möchte, mitgeben?
«Ich weiss, es ist schwer. Aber sagt dieser Person, ihr seid da. Akzeptiert die Entscheidung. Gebt dieser Person die Möglichkeit zu entscheiden, wie sie sterben will – und wen sie bei ihrem Tod an ihrer Seite haben will. Und wenn sie sagt, sie will niemanden dabei haben, hinterfragt das. Vielleicht sagt diese Person das nämlich nur zum Schutz ihrer Mitmenschen.»

veröffentlicht: 26. Februar 2023 07:02
aktualisiert: 26. Februar 2023 07:02
Quelle: ArgoviaToday

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