Elli* ist 37 Jahre alt, hat im Ausland studiert und arbeitet aktuell in einem mittelständischen Unternehmen als Marketing-Managerin. Einmal die Woche arbeitet sie zum Ausgleich in einer Bar, zweimal geht sie noch zum Sport. Nach aussen hin führt sie ein gutes, strukturiertes und ausgeglichenes Leben – doch hin und wieder zeigen sich alte zerstörerische Muster. Dann greift sie zum Alkohol. Dann will sie Dampf ablassen und vergessen.
Junge Frauen trinken heute fast genau so viel wie Männer
Elli ist Alkoholikerin. Sie gehört damit zu der Bevölkerungsgruppe, die aktuell besonders stark von Alkoholsucht gefährdet ist. Frauen trinken demnach heute fast genau so viel wie Männer, wie der deutsche Alkoholatlas des Deutschen Krebsforschungszentrums zeigt. Es sind meist junge Frauen, denen heute überdurchschnittlich viele Chancen im Leben zugesprochen werden, weil sie in der Regel gut ausgebildet, emanzipiert, sehr gesundheits- und körperbewusst sind. Frauen eben wie Elli.
«Du willst es allen recht machen und du weisst um deine Privilegien. Du kannst Karriere machen, du kannst Mutter sein, du kannst berufstätig und Mutter sein. Du kannst auch weder noch sein. Du kannst ein Vorbild sein, was toll ist. Dennoch ist da ständig der Druck, es ja nicht zu versauen», sagt Elli.
Der Weg in den Alkoholismus begann bei ihr schleichend. Sie habe schon immer gerne ein Glas getrunken – «am liebsten Bier.» Es war bereits zu Hause in Basel bei den Eltern und Grosseltern ein ständiger Begleiter. «Es gab kein Fest ohne Bier oder Wein. Ich bin damit aufgewachsen und dass das gefährlich sein könnte, war mir lange nicht richtig bewusst. Alkohol war ja immer da und er gehörte irgendwie dazu, wie Saft und Wasser», berichtet Elli. Dass ein naher Verwandter an Alkoholismus starb, wurde in der Familie lange verschwiegen. «Mir wurde immer erzählt, dass er einen Unfall hatte. Wie er tatsächlich ums Leben kam, habe ich erst vor zwei Jahren erfahren.»
Neben ihrem Studium in Mannheim hat sie in der Gastronomie gearbeitet. «Auch dort gehörte der Alkohol dazu, vor allem nach Feierabend oder wenn es mal stressig wurde.» Die Abende wurden immer länger und die Gläser mehrten sich. «Grundlagengetränk meines Alkoholkonsums war meist Bier. Hin und wieder mal was Stärkeres. An einem normalen Abend habe ich sechs bis zehn Biere getrunken. Und dazu vielleicht noch ein bis zwei Schnäpse.» Das sei Standard gewesen und zwar fast jeden Abend. Das ging so, bis sie ihren ersten festen Job hatte.
Alles im Leben hat gepasst – eigentlich
«An meinem ersten Arbeitstag haben wir danach noch einen Apéro genommen. Das wurde dann einmal die Woche so gemacht. Und statt Bier war es dann eben Sekt oder Weisswein.» Elli musste aber bald wieder auf Bier umsteigen. «Vom Wein bekam ich schlimmes Sodbrennen.» Zu Beginn nahm sie sich noch zurück, wollte vor ihren neuen Kolleginnen und Kollegen gut dastehen. «Ich wollte nicht schon gleich von Anfang an der Saufkopf sein. Die Frau, welche ein Problem hat.» Dass sie eins hatte, war ihr aber bereits klar. «Alkohol hat meinen Alltag bestimmt, dennoch habe ich alle Warnzeichen ignoriert. Schliesslich hatte ich einen guten Job, ging regelmässig zum Sport, achtete auf meine Ernährung, hatte eine gut funktionierende Beziehung. Ich habe mich ständig so bemüht, dass nach aussen hin alles perfekt ist.» Und dafür musste sie manchmal Dampf ablassen, vergessen und loslassen. «Bis ich nichts mehr gefühlt habe. Ich hab mich so lange volllaufen lassen, bis ich innerlich leer war.»
«Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, wusste ich schon, dass mein Konsum ziemlich problematisch war. Auch mein Umfeld, ich hatte keine Freundinnen und Freunde, die nicht gerne und aussgiebig tranken.» Weiter erzählt sie, dass sie manchmal untereinander damit angaben, wer in der Woche am wenigsten getrunken hat. «Wir wollten uns gegenseitig beruhigen und versichern, dass wir kein Problem haben.»
Von einem Blackout zum Nächsten
Mit der Zeit hat sich ihre Toleranzgrenze verschoben: «Zu meiner Höchstzeit habe ich abends bis zu 18 Biere getrunken. Ich konnte nicht mehr aufhören, wollte nicht nach Hause gehen und vor allem wollte ich nicht nachdenken. Ich war tief in mir sehr unglücklich und ich soff bis zum Blackout.» Und diese wurden immer häufiger. «Das war ziemlich unangenehm und peinlich.» Vor allem dann, wenn Elli nicht mehr wusste, wie sie nach Hause kam. «Mein Freund hat mich meist mitgenommen, wenn er noch konnte.» Er war auch fast immer dabei und trank ebenso gerne wie Elli. «Das war auch ein Grund, warum wir uns so gut verstanden haben. Bei ihm konnte ich mir sicher sein, dass er mir meinen Konsum niemals vorwerfen wird oder ich ihm seinen.»
Zum Feiern habe sich immer ein Anlass finden lassen und wenn nicht, war das auch einer. «Ich bin am Ende fahrig und unzuverlässig geworden.» Mindestens einmal im Monat musste sie bei der Arbeit anrufen, um sich krank zu melden, weil sie einen Kater auszuschlafen hatte oder noch gar nicht zu Hause war. «Ich hatte immer die tollkühnsten Ausreden parat. Entweder waren es schlimme Bauchkrämpfe, eine schlimme Erkältung, Kopfschmerzen oder einem Familienmitglied ging es nicht gut.» In den Momenten habe sie nie ein schlechtes Gewissen gehabt, dass sie zunehmend Arbeitgeber, Kolleginnen und Kollegen, Familie und Freunde anlog. «Das kam immer erst dann, wenn ich wieder nüchtern war. Und dann ungebremst.»
Es war wie eine Spirale, aus der sie nicht mehr herauskam. «Ich hatte mich in der Hinsicht an mein Versagen gewöhnt. Obwohl nach aussen hin alles gut aussah, war nichts mehr da und der Alkohol ist auch ein guter Tröster. Man weiss, was man bekommt, und das macht ihn auch so gefährlich.» Während der Pandemie hat sich ihre Sucht zunächst abgemildert. «Ich konnte ja nicht mehr in den Ausgang. Die Beizen hatten alle geschlossen. Es hat sich wie ein Segen angefühlt.» Doch lange hielt der Segen nicht – Homeoffice und soziale Isolation taten ihr Übriges. «Am Ende hab ich mich so geschämt, dass ich nur noch zu Hause alleine trank.»
Und heute?
Elli wohnt mittlerweile wieder in Basel. Von ihrem Partner und ihrem Umfeld hat sie sich vor einem Jahr getrennt. Der Konsum hat sich drastisch verringert, aber sie weiss um die ständige Versuchung. «Mir ist bewusst, wie kontraproduktiv der Job in der Bar ist und wie gefährdet ich bin.» Dennoch sei sie noch nicht bereit für einen Entzug. «Aktuell denke ich, ich schaffe das ohne.» Rückfälle in alte Strukturen und Muster hat sie immer noch, auch wenn aktuell nicht so häufig. Es fehle aber noch der Mut, um sich grundsätzlich mit dem Thema auseinanderzusetzen, fügt sie an. «Es ist noch nicht wirklich bei mir angekommen, dass ich krank bin. Aber ich arbeite dran.»
(*Name von der Redaktion geändert)