Essstörungen im Sport

«Ich habe mich wie eine Verliererin gefühlt, vollkommen wertlos»

18.05.2023, 09:58 Uhr
· Online seit 18.05.2023, 09:16 Uhr
Dünne Beine, keine Kurven, fahler Teint und hervorstehende Knochen: Viele Sportlerinnen und Sportler hungern oder erbrechen für den vermeintlichen Erfolg. Essstörungen im Sport sind ein ernst zu nehmendes Problem und immer noch ein Tabu.
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Ein gestörtes Verhältnis zum Essen und Essstörungen gehören im Leistungssport zu den häufigsten psychischen Erkrankungen. Unabhängig von Geschlecht und Sportart ist ein verzerrtes Körperbild ein wesentlicher Faktor. Der Weg in die Essstörung ist oft schleichend und beginnt meist schon in jungen Jahren. Vor allem in ästhetischen Sportarten, in denen ein schlanker, definierter Körper unabdingbar ist – wie dem Rollkunstlauf.

Kristina* fängt mit fünf Jahren in einem Rollkunstlauf-Verein nahe der deutschen Grenze an. Schnell zeigt sich ihr Talent. Sie hat Spass am Sport, an der Bewegung, und wird gefördert. Mit neun Jahren fährt sie zu überregionalen Wettkämpfen, mit elf Jahren startet sie zum ersten Mal an einer internationalen Meisterschaft. Kristina ist schnell erfolgreich und der Sport immer wichtiger. Das Thema Essen und Gewicht wird mit jedem weiteren Erfolg wichtiger.

Lebensmittel wurden in gut und schlecht eingeteilt

«Mein Essen wurde plötzlich kontrolliert oder zumindest kommentiert», erklärt Kristina gegenüber ArgoviaToday. «Ich war damals elf oder zwölf Jahre alt, normaler Körperbau, weder zu dick noch zu dünn.» Ihr sei ausführlich erklärt worden, welche Lebensmittel gut sind und welche nicht. Welche Speisen Erfolg bedeuten und welche Niederlage. «Ich habe sukzessive die ‹schlechten› Lebensmittel von meinem Speiseplan verbannt.» Wenn sie dann doch mal genascht habe, sei sofort das schlechte Gewissen dagewesen. «Ich habe mich dann immer wie eine Verliererin gefühlt, vollkommen wertlos, die es nicht verdient hat», sagt sie.

Das war der Einstieg: Langsam aber sicher entwickelte Kristina ein gestörtes Verhältnis zum Essen, aber auch zu ihrem Körper. «Ich konnte das Essen nicht mehr geniessen, hab ständig Kalorien gezählt und nur noch darüber nachgedacht, was ich essen kann und was nicht.» Sie wollte gefallen, eine gute und vorbildliche Sportlerin sein.

Der Körper veränderte sich

Und dann kam die Pubertät. Kristinas Körper veränderte sich, sie wurde «fraulicher» und egal, wie sehr sie aufs Essen und ihr Gewicht achtete, die Veränderungen waren nicht mehr aufzuhalten. Das machte sich auch bei den Sprüngen und Elementen bemerkbar. «Von 100 auf 0. Das war total demoralisierend. Nichts klappte mehr, ich musste mich umstellen, die Sprünge quasi neu lernen.» Hinzu kam, dass die junge Frau nun wöchentlich gewogen wurde – zur Kontrolle. «Vor den anderen Läuferinnen und Läufern», so Kristina. «So wussten alle gleich, dass du zugenommen hast. Dann war es still, du hattest nämlich versagt. Hattest du aber abgenommen, gabs Applaus und viele Komplimente.»

Das habe sie genossen und sich unglaublich toll und wertvoll gefühlt, erzählt sie. «Die Sprünge haben wieder besser funktioniert. Ich habe gespürt, dass es vorangeht, es bringt mir etwas, wenn ich weniger wiege. Das sind positive Erfahrungen, die sich einbrennen, davon willst du mehr.»

Grenzen wurden immer weiter überschritten

Irgendwann kam ein Trainer zu ihr und fragte sie, welches Obst sie gerne esse und dass sie sich davon in den nächsten Wochen ernähren solle, um ihr Gewicht in den Griff zu bekommen. «Damit war die Grenze überschritten und ich habe angefangen, mir den Finger in den Hals zu stecken.» Sie hat dabei geweint und sich schlecht gefühlt, wie Kristina sagt. Im Hintergrund lief der Wasserhahn, um die Geräusche zu überdecken. Schliesslich sollte die Familie nichts mitbekommen.

Am Anfang sei es noch kontrolliertes Erbrechen gewesen, vor allem vor den Wiegetagen oder wenn sie sich generell zu voll gefühlt habe. «Es dauerte aber nicht lange, bis ich mir regelmässig den Finger in den Hals gesteckt habe. Erst wöchentlich, dann täglich und am Ende mehrmals am Tag. Da brauchte es keinen bestimmten Auslöser mehr, es reichte, dass ich gegessen habe», so Kristina. «Mein Gesicht war ständig aufgedunsen, ich war fahrig, zittrig, müde und fror ständig.» Das Umfeld reagierte allerdings nicht auf ihre Veränderungen. Denn Essstörungen im Rollkunstlauf oder allgemein im Sport kommen häufiger vor und gelten dennoch immer noch als Tabu. «Nicht nur die Leistungsebene ist betroffen, auch im Breitensport gehört ein gestörtes Essverhalten dazu. Dabei soll der Sport in erster Linie doch Spass machen und nicht kaputt», meint Kristina. Vor allem die Heimlichtuerei um die Essstörung mache ihr bis heute zu schaffen. Dabei sind Magersucht oder Bulimie im Leistungssport kein Einzelfall.

Unsere Redaktorin leidet bis heute unter ihrer Essstörung

Auch ich bin betroffen, denn Kristinas Geschichte ist genauso meine Geschichte. Ich bin ebenfalls jahrelang Rollschuh gelaufen, bin bei Europa- und Weltmeisterschaften gestartet und auch bei mir fing die Essstörung in der Pubertät an, als sich mein Körper veränderte. Und auch bei mir war Essen schon früh ein alles beherrschendes Thema und ist es leider bis heute. Ich habe zwar mit Anfang 20 mit dem Sport aufgehört, die Bulimie nahm ich allerdings mit. Ich brauchte einige Jahre, bis ich gemerkt habe und endlich so weit war, dass ich das nicht alleine schaffe und eine Therapie machen muss. Und das war nicht einfach. Es war ein harter und steiniger Weg, auf dem ich viele Rückschläge einstecken musste.

Mein Stoffwechsel war hinüber, meine Zähne kaputt, meine Haare fielen aus, mein Selbstbewusstsein lag am Boden. Mein Körper musste und muss bis heute noch lernen, richtig mit Nahrung umzugehen. Obwohl ich mich während der Therapie viel bewegte und auf meine Ernährung geachtet habe, nahm ich über 25 Kilo zu. Es dauerte eine Weile, bis ich akzeptieren konnte, dass das zur Genesung wohl dazugehört. Dass sich mein Körper eben erholen muss und dass das unter Umständen Jahre dauern wird.

Ein gesundes Mittelmass ist das Ziel

Dass sich auch der Kopf neu programmieren muss, fällt mir zuweilen auch nach knapp sechs Jahren ohne Rückfall noch schwer. Ich ertappe mich heute noch, dass ich stolz auf mich bin, wenn ich wenig gegessen habe. Oder dass ich mein Essen an manchen Tagen in gute und schlechte Lebensmittel einteile oder mich besser fühle und mich mehr achte, wenn ich abgenommen habe. Genauso fühle ich mich heute immer noch elendig, wenn ich über die Stränge geschlagen habe. Ich muss mich heute immer noch ermahnen, dass ich das Essen geniessen darf und auch, dass Extreme keine Optionen für mich mehr sind. Obwohl ich weiss, dass kein Gewicht meinen Wert misst, dauert es, diese Glaubenssätze abzulegen. Es braucht viel Geduld, bis ich kapiere, dass Essen nichts Böses ist und ich ein gesundes Mittelmass gefunden habe. Ich bin immer noch auf dem Weg und es wird jeden Tag ein kleines Stück besser.

* Name der Redaktion bekannt

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veröffentlicht: 18. Mai 2023 09:16
aktualisiert: 18. Mai 2023 09:58
Quelle: ArgoviaToday

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