«Wirklich keine Überstunden?»

Jobsuchende löchern Vorgänger aus Angst vor Überlastung

· Online seit 06.01.2023, 15:16 Uhr
Bei einem Jobwechsel besteht das Risiko, vom Regen in die Traufe zu kommen. «An den Vorstellungsgesprächen wurde mir das Blaue vom Himmel versprochen», erzählt ein IT-Berater. Seither wendet er sich direkt an Ex-Mitarbeitende.
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Ein neues Jahr, ein neuer Job: Mit diesem Gedanken dürften einige Berufstätige im Januar spielen. Über eine halbe Million Angestellte wollen die Stelle wechseln, wie die neuste Analyse von Travailsuisse, dem Dachverband der Arbeitnehmenden, im November zeigte. Jede dritte Person will den Job wegen der hohen Arbeitslast an den Nagel hängen.

Optionen gibt es in Hülle und Fülle. Im Vergleich zum Vorjahr sind in der Schweiz laut dem Michael Page Swiss Job Index aktuell 8,5 Prozent mehr Stellen ausgeschrieben. Besonders stark übersteigt die Nachfrage nach Fachkräften das Angebot in den Kategorien Verwaltung, Logistik, IT, Produktion und Finanzen. Doch viele Berufstätige, die mit einem Wechsel liebäugeln, versuchen aktiv zu verhindern, am neuen Ort vom Regen in die Traufe zu kommen.

Nach sechs Wochen gekündigt

Für IT-Berater Adrian Bezzola ist es selbstverständlich, sich bei der Vorgängerin oder dem Vorgänger der Stelle seines Interesses zu informieren. Der 36-Jährige hat in seiner Karriere dreimal nach kurzer Zeit das Handtuch geworfen. Bei einer Stelle habe er nach sechs Wochen gekündigt, bei einer weiteren nach vier Monaten und bei der letzten nach eineinhalb Jahren.

«An den Vorstellungsgesprächen wurde mir das Blaue vom Himmel versprochen. Die Realität sah dann anders aus», erklärt Bezzola die Sprünge. So habe er zum Beispiel viele Überstunden leisten müssen und es habe eine schlechte Vertrauenskultur geherrscht.

«Erfuhr, ob sie wirklich keine Überstunden leisten musste»

Bevor er sich bewerbe oder spätestens, bevor er für einen Job zusage, versuche er zum Beispiel über das Business-Netzwerk Linkedin die Vorgängerin oder den Vorgänger zu kontaktieren, sagt Bezzola. Ehemalige Angestellte sprächen freier und ehrlicher über den Job. «Zum Beispiel erfuhr ich dann, wie die Person das Arbeitsklima erlebte und ob sie wirklich kaum Überstunden leisten musste.»

Bis jetzt habe er damit nur positive Erfahrungen gemacht, so der IT-Berater. «Bei den Jobs, die ich dann annahm, zeigte der Arbeitgeber nicht plötzlich ein anderes Gesicht.»

«Mitarbeitende lästerten hintenrum»

A.H.* hingegen bereut, vor dem Stellenwechsel keine Ex-Mitarbeitenden gelöchert zu haben. Nach nur zwei Monaten kündigte sie ihre Stelle als Sachbearbeiterin HR Payroll bei einem Gesundheitsdienstleistler. «Ich merkte, dass der Job nichts für mich ist, weil Mitarbeitende vornedurch sehr lieb waren, hintenrum aber über jeden lästerten. Und der Chef, der war sehr launisch», berichtet die 30-Jährige.

Ihr früher Abgang hatte aber noch weitere Gründe. «Der Job, der als flexibel angepriesen wurde, war sehr durchgetaktet und erforderte viel Überzeit. Dazu hatte niemand Zeit, neue Mitarbeitende einzuschulen.» Auch habe sie im Nachhinein erfahren, dass die Fluktuation im Team hoch gewesen sei. «Innerhalb eines Jahres hatten sechs Personen gekündigt.»

Eindrücke seien sehr persönlich

Fabian Büsser, Direktor des Personalberatungsunternehmens Michael Page, bestätigt, dass das Ausfragen von Ex-Mitarbeitenden unter Kandidatinnen und Kandidaten immer beliebter werde. Dies hänge damit zusammen, dass der Kandidatenmarkt der trockenste seit langem sei. «Top-Kandidaten erhalten mehrere Jobangebote und manche wollen sich mit anderen austauschen, bevor sie sich entscheiden.» Dies sei insbesondere der Fall, wenn die Kandidaten die Risiken eines Jobwechsels senken wollten, weil sie etwa über eine potenzielle Rezession besorgt seien.

Dem Urteil der Vorgängerin oder des Vorgängers blind zu vertrauen, ist aber nicht die Lösung. Fabian Büsser erklärt: «Kandidaten müssen sich bewusst sein, dass solche Eindrücke sehr persönlich sind und sich nicht unbedingt auf die eigene Karrieresituation anwenden lassen.»

Erfahrungen werden schnell öffentlich

Laut Büsser zeigt dieser Trend für Unternehmen, wie wichtig es ist, alle Mitarbeitenden, auch ehemalige, als Botschafter für das eigene Unternehmen zu sehen. «Mittels der Möglichkeiten der sozialen Medien gelangen positive wie auch negative Erfahrungen schnell an eine grosse Öffentlichkeit.» Dies bietet einem Unternehmen aber auch die Möglichkeit, die eigene Organisation authentisch darzustellen.

Adrian Bezzola ist der Meinung, dass sich Arbeitnehmende angesichts des Fachkräftemangels trauen sollen, wählerisch zu sein und Ansprüche zu stellen. «Das Leben ist mehr als Arbeiten. Ich wünsche mir, dass Arbeitgeber dies merken.»

*Name der Redaktion bekannt.

veröffentlicht: 6. Januar 2023 15:16
aktualisiert: 6. Januar 2023 15:16
Quelle: Today-Zentralredaktion

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