Brücken schlagen statt zerschlagen

Pandemie fordert unsere Gesellschaft

· Online seit 02.12.2021, 19:01 Uhr
Ein klares Ja zum Covid-19-Gesetz, eine fünfte Welle und eine fünfte besorgniserregende Virusvariante – die Pandemie ist präsenter denn je. Was bedeutet das für unsere Gesellschaft?
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Zum ersten Mal überhaupt musste das Bundeshaus an einem Abstimmungssonntag abgesperrt werden. Die Berner Kantonspolizei teilte in einer Medienmitteilung mit, dass sie schon ab dem frühen Sonntagnachmittag mit verschiedenen Kundgebungen in der Stadt rechne. Anlass zur Vermutung waren Telegram-Chats unter Massnahmenkritikern, in denen Manipulations- und Betrugsvorwürfe bezüglich der Abstimmung kursierten und zu Gewalt aufgerufen wurde. Unschweizerisch? Jedenfalls nicht das, was von einem Land erwartet wird, das Platz 6 des weltweiten Demokratierankings belegt. 

Nach dem klaren Ja zum Covid-19-Gesetz mit 62 Prozent blieb es vorerst ruhig. Warum? «Es war ein Schock für die Gegner, sie waren überzeugt, dass das Volk das Covid-19-Gesetz ablehnen wird. Die klare Niederlage nahm ihnen kurzfristig den Wind aus den Segeln», erklärt Soziologe Marko Kovic. Mit Betonung auf «kurzfristig». Denn Statements der gegnerischen Seite liessen nicht lange auf sich warten. Statements, in denen gar an der Rechtmässigkeit der Abstimmung gezweifelt wurde. So postet die Bewegung «Mass-voll» noch am Abstimmungssonntag: «Die Manipulation auf dem Abstimmungszettel, die Diffamierung unserer Bürgerrechtsbewegung und die massive Behinderung des Abstimmungskampfes haben unter anderem zu diesem Ergebnis geführt.» Dies zeige, dass die Mobilisierungskraft nach wie vor da sei, so Kovic.

Schluss machen mit dem Staat

Nebst der Mobilisierung kommt es auch vermehrt zu einer Abschottung der extremistischen Gegner vom Staat. Diese Entwicklung bereitet Marko Kovic Sorgen: «So werden Sehnsüchte offen und ungehemmt ausgelebt und extremisieren sich.» Diese Abschottung sei nicht nur gefährlich, sondern auch sehr paradox, so Kovic. «Die Kreise klagen zwar seit Monaten, dass sich die Gesellschaft aufgrund der Corona-Politik des Bundes spalte, kapseln sich aber selber ab.»

Befeuern mag die gegnerische Seite zudem, dass der Bundesrat nur zwei Tage nach der Abstimmung über das Covid-19-Gesetz die Massnahmen verschärft hat. Genau vor diesem Szenario haben sie gewarnt und nun fühlen sie sich bestätigt. «Mass-voll» postet: «Wer hätte es gedacht… keine 24h nach der Abstimmung wird die 2G-Regel in der Schweiz zum grossen Thema.»

Eingeschüchteter Bundesrat?

Nichts mit 2G, Maske trotz Zertifikat, repetitive Tests an Schulen und Corona-Tests, die nur noch halb so lange gültig sind – so die Vorschläge, die der Bundesrat den Kantonen aufgrund der steigenden Fallzahlen in Kombination mit der neuen besorgniserregenden Virusvariante Omikron macht. Im Vergleich zu unseren Nachbarländern, die eine 2G-Regel oder gar eine Impfpflicht einführen, milde Verschärfungen mit viel Spielraum. Hat unser Bundesrat Angst, mit schärferen Massnahmen die Gesellschaft weiter zu spalten? «Er will jedenfalls nicht, dass sich die extremistische Seite noch mehr vor den Kopf gestossen fühlt. Deswegen sind die vorgeschlagenen Massnahmen taktisch sinnvoll – auch wenn sie mehr auf die Geimpften zielen», so Marko Kovic.

Ueli Mäder, Soziologieprofessor an der Uni Basel, sieht die Massnahmen gar als Chance: «Maske tragen tut weder den Geimpften noch den Ungeimpften weh. Es sind kleine Schritte in eine gemeinsame Richtung – das kann auch eine Chance sein, spaltende Tendenzen einzudämmen.»

Von spaltenden Tendenzen bis besorgniserregender Spaltung

Kündigung an den Staat, Manipulationsvorwürfe, Gewalt – das klingt nach einer gesellschaftlichen Spaltung im fortgeschrittenen Stadium. Dennoch spricht Ueli Mäder nicht von «Spaltung», sondern lieber von «spaltenden Tendenzen». Er schaut mit mehr Weitsicht auf die aktuellen Entwicklungen: «Im Kontext mit anderen brisanten Geschehnissen, beispielsweise mit den wachsenden sozialen Ungleichheiten und der Klimaerwärmung, finde ich: Das Ausmass der aktuellen Entwicklungen ist wohl weniger gross, als oft geschrieben oder gesagt wird. Corona hat spaltende Tendenzen zwar beschleunigt und vorhandene Benachteiligungen verstärkt, diese haben sich aber schon vor drei Jahrzehnten verschärft, als Geld, Konkurrenz und der Egotrip immer wichtiger wurden.»

Marko Kovic spricht klar von einer Spaltung, relativiert aber: «Die Abstimmung wurde eindeutig angenommen. Zwei Drittel der Bevölkerung sind sich einig.» Und auch bei den Gegnern des Covid-19-Gesetzes dürfe man nicht alle in einen Topf werfen. «Nicht alle, die sich nicht impfen lassen, verwehren den Dialog.»

Konsens – mehr Mythos als Realität 

Sowohl Mäder als auch Kovic sind der Meinung: Eine Demokratie lebt von Auseinandersetzungen. Konsens sei mehr Mythos als Realität. Menschen dürfen streiten, aber respektvoll. Und: «Bei Diskussionen ist eine gemeinsame Grundlage unabdingbar. Genau die fehlt im Moment», so Kovic.

Für ihn geht die fehlende gemeinsame Basis unter anderem auf den Medienkonsum zurück: «Wir bewegen uns immer mehr in Bubbles. Wir lesen das, was unsere Meinung widerspiegelt. Im schlimmsten Fall könnte das zu einer Polarisierung wie in den USA führen, wo ein demokratischer Prozess schlicht nicht mehr möglich ist.» Natürlich sei das das Worst-Case-Szenario. Davon sei man noch genug weit weg. Aber: «Die Dynamik, mit der sich die Spaltung entwickelt, beunruhigt mich.»

Gerade weil Ueli Mäder sich die Entwicklung über drei Jahrzehnte hinweg anschaut, scheint er wenig beunruhigt. Im Gegenteil: «Es geschieht auch viel Gegenläufiges. Ich beobachte, dass viele Menschen in der Schweiz sehr sozial miteinander umgehen, dass Solidarität gerade in Pandemiezeiten in unserem Land grossgeschrieben wird und Brücken schlägt», sagt Mäder.

Offene Ohren, Verständnis und viel Konstruktivität  

Ob Spaltung oder spaltende Tendenzen, ob besorgniserregend oder weniger: Fakt ist, dass das Bundeshaus zum ersten Mal während eines Abstimmungssonntags abgesperrt werden musste. Das ist unschweizerisch. Und deswegen muss laut Kovic jetzt etwas geschehen: «Das A und O sind jetzt offene Ohren, Verständnis und viel Konstruktivität.»

veröffentlicht: 2. Dezember 2021 19:01
aktualisiert: 2. Dezember 2021 19:01
Quelle: PilatusToday

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