Ein Schleudertrauma nach zwei Autounfällen innert zwei Jahren schränkt das Leben von E.K.* bis heute ein. Rückenprobleme und Schmerze plagen sie. Fast zu 50 Prozent invalide ist die heute 72-Jährige seit den beiden Unfällen in den 90er-Jahren. Von den damaligen Elvia Versicherungen, die heute Allianz Suisse Versicherungen heissen, erhielt die Aargauerin deshalb eine Rente von monatlich 2600 Franken der Obligatorischen Unfallversicherung (UVG). Nach rund 22 Jahren ist damit aber plötzlich Schluss.
Kürzlich stellte die Allianz Suisse die Leistungen ein. Sie begründete dies damit, dass zum Zeitpunkt der gesprochenen Unfallrente keine korrekte Adäquanzprüfung vorgenommen worden sei. Demnach hat zwischen Unfall und Beschwerden bei der Prüfung damals kein «adäquater» kausaler Zusammenhang bestanden.
«Sie macht daraus ein Business»
Urs Hochstrasser, Anwalt von E.K., findet dies unerhört. «Nach 20 Jahren soll die Rente meiner Mandantin aus heiterem Himmel nicht mehr gerechtfertigt sein», sagt er zur Today-Zentralredaktion. In all den Jahren habe die Allianz weder eine Revision noch weitere Prüfungen vorgenommen, merkt Hochstrasser an.
Für den Aargauer Schadenanwalt steht deshalb fest: «Die Allianz macht aus Adäquanzprüfungen ein Business, indem sie systematisch alte Fälle durchforstet und nachträglich als nicht korrekt beurteilt.» Besonders beliebt seien Fälle im Zusammenhang mit Schleudertraumata. «Holt die Allianz so pro Monat nur 1000 Franken heraus, kann sich der CEO gleich einen Bentley kaufen.»
Der Verein Versicherte Schweiz setzt sich für die Interessen der Versichertengemeinschaft ein. Auch Hochstrasser ist Mitglied im Verein. «Die Allianz fällt mit dieser Praxis chronisch auf», sagt er.
Verein sind mindestens 30 Fälle bekannt
Rainer Deecke, Präsident von Versicherte Schweiz, bestätigt die Aussage. Die Allianz sei die einzige dem Verein bekannte Versicherung, die strategisch ältere Fälle durchkämme, in Wiedererwägung ziehe und berechtigte Leistungen streiche. Der Verein setze sich für faire und transparente Versicherungsverfahren ein. Mindestens 30 Fälle, welche die Allianz beträfen, seien vom Bundesgericht bereits beurteilt worden. «Dazu kommt eine sehr hohe Dunkelziffer.» Denn viele Rentenberechtigte schluckten die Streichung der Renten oder würden nicht durch alle Instanzen gehen.
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Auch Bundesrichterinnen und -richtern soll die Praxis aufgefallen sein. Bei der öffentlichen Urteilsberatung von E.K. im März soll Bundesrichter Marcel Maillard laut Rainer Deecke gesagt haben, sie hätten Anhaltspunkte, dass die Allianz systematisch alte, längst erledigte Fälle daraufhin prüfe, ob eine Wiedererwägung möglich sei. Ihm sei keine andere Versicherung bekannt, die so vorgehe. Dies soll er als «stossend» bezeichnet haben. Deecke: «Die Allianz betreibt eine rücksichtslose Gewinnmaximierung auf Kosten gutgläubiger Rentnerinnen und Rentner.»
Allianz stelle mehr Gerechtigkeit sicher
Die Allianz Suisse weist die Kritik zurück. «Wir in der Rolle eines obligatorischen Unfallversicherers ‹ziehen nicht einfach regelmässig ältere Fälle in Wiedererwägung und stellen Leistungen ein›», sagt Hans-Peter Nehmer, Leiter Unternehmenskommunikation. Vielmehr analysiere die Versicherung konkrete Einzelfälle und berücksichtige dabei alle relevanten Faktoren.
Nehmer weist darauf hin, dass die Allianz Suisse als obligatorischer Unfallversicherer dem Legalitätsprinzip sowie dem Prinzip der Gleichbehandlung der Versicherten unterliege. «Je nach Fallkonstellation hat die versicherte Person unter Umständen über eine lange Zeitperiode von finanziellen Leistungen zu Lasten des Versichertenkollektivs profitiert, die bei korrekter Leistungsbemessung gar nicht oder zumindest nicht in dieser Höhe hätten zugesprochen werden dürfen.» Durch die Überprüfung einzelner UVG-Rentenfälle stelle Allianz Suisse auch mehr Gerechtigkeit und eine Gleichbehandlung aller ihrer Versicherten sicher.
«Halten uns stets an gesetzliche Grundlagen»
Laut Nehmer wird im Rahmen einer Wiedererwägung, wenn alle einschlägigen Voraussetzungen erfüllt sind, für die Zukunft gerichtet der rechtskonforme Zustand wieder hergestellt. «Zusammengefasst überprüfen wir in einzelnen UVG-Rentenfällen, ob jeweils im konkreten Fall die Leistungsansprüche in der Vergangenheit korrekt bemessen wurden.»
Sei die Leistungszusprache nicht korrekt, könne dies zur Einstellung der entsprechenden Zahlungen führen, so Nehmer. «Dabei halten wir uns stets an die einschlägigen gesetzlichen Grundlagen und an die Rechtsprechung des Bundesgerichts.» Insofern sei die Allianz Suisse in der Rolle als obligatorischer Unfallversicherer als Behörde des Bundes in ein enges rechtliches Korsett eingebettet.
*Name der Redaktion bekannt.