Schweiz

Welche hochverarbeiteten Lebensmittel ungesund sind – und welche nicht

Interview

Experte klärt auf: Welche hochverarbeiteten Lebensmittel ungesund sind – und welche nicht

· Online seit 20.09.2024, 22:07 Uhr
Kaum eine Woche vergeht, ohne dass eine neue wissenschaftliche Studie hochverarbeitete Nahrungsmittel verteufelt. Lebensverkürzend seien sie und verantwortlich für diverse gesundheitliche Probleme. Heute gehört es zum Common Sense, dass industriell hergestellte Produkte schlecht für die Gesundheit sind. Wir haben nachgefragt.
Patrick Toggweiler / watson
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Deshalb wenig erstaunlich, dass es Kommentare in die Richtung hagelt, als wir das Fleischersatzprodukt einer Schweizer Firma testen. In über 30 Kommentaren wird das Prädikat «hochverarbeitet» in einem negativen Zusammenhang erwähnt – und auch das Wort «Chemieunfall» fällt.

Aber was sind hochverarbeitete Nahrungsmittel wirklich? Und wissen die Leute, was sie da verteufeln? Wir wollten es genauer wissen und befragten dazu Dr. Daniel Wefers, Professor für Lebensmittelchemie an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg, Deutschland.

Herr Wefers – was sind hochverarbeitete Lebensmittel?
Prof. Dr. Daniel Wefers:
Ganz klar sind die Kriterien nicht. Es gibt verschiedene Definitionen.

Gibt es keine Definition, die sich durchgesetzt hat?
Es gibt eine, die am häufigsten verwendet wird und welche die meisten Studien verwenden. Das ist die sogenannte NOVA-Klassifikation. Sie teilt Lebensmittel in vier Kategorien ein:

  • 1. Nicht / gering verarbeitete Lebensmittel
  • 2. Verarbeitete Zutaten
  • 3. Verarbeitete Lebensmittel
  • 4. Hochverarbeitete Lebensmittel

Die meisten Studien beziehen sich auf NOVA. Auch Open Food Facts greift darauf zurück – und damit sehr viele Apps, welche Lebensmittel nach Gesundheit klassifizieren.

Das tönt für den Laien schon mal sinnvoll und nützlich.
NOVA schaut allerdings einzig darauf, ob gewisse Zutaten vorhanden sind oder gewisse Prozesse durchgeführt wurden, nicht jedoch auf die Nährwertzusammensetzung. Aufgrund dessen – und das ist der grosse Kritikpunkt an NOVA – wird eine sehr breite Palette an Nahrungsmitteln als hochverarbeitet (NOVA-4) definiert. Der zweite grosse Kritikpunkt an NOVA ist, dass die Definition sehr ungenau geschieht.

Was fällt denn alles unter NOVA-4?
Zum Beispiel sämtliche kohlensäurehaltigen Süssgetränke, also Softdrinks, Kartoffelchips, Snacks, aber auch Vollkornbrote aus dem Supermarkt oder ein vorproduzierter Gemüseauflauf mit bestimmten Zusatzstoffen, alles, was sogenannt «ready to eat» ist – Fertigprodukte. Sobald ein Nahrungsmittel industriell hergestellt und unter Zuhilfenahme von Lebensmittelzusatzstoffen aus verschiedenen Zutaten zusammengesetzt wird, kommt der NOVA-4-Stempel darauf.

Und wo liegt da das Problem?
Viele Studien sind Beobachtungsstudien der verschiedenen NOVA-Gruppen. Und da zeigt sich bei NOVA-4-Lebensmitteln ein stärkerer Zusammenhang mit negativen gesundheitlichen Auswirkungen als bei anderen NOVA-Gruppen. Das ist so schon richtig.

Die Resultate bedeuten aber nichts anderes, als dass es in der NOVA-4-Gruppe proportional mehr ungesunde Lebensmittel gibt als in den anderen NOVA-Gruppen. Der Umkehrschluss, dass jedes Lebensmittel in der 4er-Gruppe ungesund ist, ist nicht zulässig.

Mir dämmert, worauf Sie hinauswollen ...
Wenn man genau hinschaut und Studien berücksichtigt, die Produkte innerhalb der NOVA-4-Gruppe untersuchen, dann kann man nur zwei Produktgruppen isolieren, bei denen wirklich negative gesundheitliche Effekte beobachtet werden können. Sie reissen die restlichen Lebensmittel innerhalb der NOVA-4-Gruppe mit hinunter.

Welche zwei Gruppen sind das?
Softdrinks und prozessiertes Fleisch.

Und die sind so ungesund, dass sie vorgeschnittenes Vollkornbrot, die ungesüssten Cornflakes und den Fertiggemüseauflauf – ebenfalls NOVA-4-Produkte – mit hinunter reissen?
Genau. Und das andere Problem ist eben die ungenaue Definition der Gruppen. Bei NOVA werden Begriffe wie «häufig» oder «einige» verwendet. Solche Definitionen sind zu schwammig und lassen so viel Interpretationsraum zu, dass um die Gruppenzuordnung von Lebensmitteln gestritten werden kann.

Sie klingen nicht wie ein NOVA-Fan.
Nein, ich bin kein Fan. Milch beispielsweise zählt nicht als hochverarbeitet. Aber wenn man sich in einer modernen Molkerei umschaut, sieht man da sehr viele Prozesse, die durchgeführt werden. Das ist aber nichts Schlechtes, sondern ermöglicht uns ein sicheres und haltbares Lebensmittel ... NOVA-4 nennt zum Beispiel auch Fraktionierung als Prozess – also die Aufspaltung von Lebensmitteln in verschiedene Teile. Genau das findet bei der Käseherstellung statt. Man gewinnt die Caseine und verarbeitet sie weiter. Trotzdem erfolgt keine NOVA-4-Kategorisierung – ausser man fügt Farbstoff hinzu. Das alles erscheint deshalb sehr schwammig und willkürlich. In meinen Augen wäre es sinnvoller, die Nährwerte zu berücksichtigen, aber das ist bei NOVA nicht vorgesehen.

Zu welcher Nova-Gruppe gehört Zucker?
Zucker ist NOVA-2 … also ein unbedenkliches Produkt (lacht). Haushaltszucker besteht ja einfach aus zwei Zuckerbausteinen, die aneinander hängen. Sobald ich das Molekül aber in die beiden Bausteine aufspalte, wird's zu Invertzucker – und dieser generiert bei Verwendung ein NOVA-4-Produkt. Ob ich Zucker oder Invertzucker esse, macht aber praktisch keinen Unterschied. Die Aufspaltung des Zuckers in seine beiden Bausteine passiert sonst im Körper. Und da sehen Sie das Problem von NOVA: ein Produkt mit ein paar Zutaten, aber 30 Gramm Zucker – kein Problem. Wenige Gramm Invertzucker bedeutet aber «hochverarbeitet» – und damit gleich «schlimm». Das zeigt, dass es bei NOVA nicht wirklich auf die Zusammensetzung ankommt, sondern rein auf eine Kategorie, die einigermassen willkürlich zusammengestellt wurde. Ob das sinnvoll ist oder nicht, das sei dahingestellt. Schlimm wird es, wenn damit Ängste geschürt werden.

Sie meinen, dass aufgrund der NOVA-4-Klasse gewissen Lebensmitteln ein schlechter Ruf anhängt, obwohl sie eigentlich gesund wären?
Beispiel Säuglingsnahrung – ist laut NOVA hochverarbeitet. Mitnichten aber ungesund beziehungsweise schlicht notwendig. Nicht alle Mütter können ihre Kinder stillen, und mit der pauschalen Verurteilung von hochverarbeiteten Nahrungsmitteln wird den Eltern Angst gemacht, sie würden ihr Kind vergiften. Das ist einfach absurd.

Wie verhält es sich mit Fleischersatzprodukten? Sind das alles NOVA-4-Lebensmittel?
Ja, die klassischen Fleischersatzprodukte, welche auf Pflanzenprotein-Isolate setzen, mit Sicherheit.

Sind die klassischen Fleischersatzprodukte gesundheitsschädlich?
Die meisten dieser Produkte sind ja erst wenige Jahre alt. Da fehlen noch die fokussierten Studien dazu. Man kann aber schon sagen, dass aufgrund der Nährwerte manche Produkte nicht ungesünder, vielleicht sogar gesünder sind als echtes Fleisch – je nach Fettgehalt, Fettart und Salzmengen. Zu glauben, diese Produkte seien ungesund, nur weil es sich dabei um ein NOVA-4-Produkt handelt, wäre indes falsch. Pauschalisierungen sind selten gut. Bei Menschen – und auch bei Lebensmitteln.

Sie erwähnten vorhin das Wort «Pflanzenprotein-Isolat»: Wie muss sich der Laie diesen Herstellungsprozess vorstellen?
Bei Sojaproteinen werden dafür zum Beispiel Rückstände der Pflanzenölgewinnung verwendet. Ist das Öl aus der Sojabohne raus, bleibt sogenannter Sojaextraktionsschrot zurück. Mithilfe von Wasser und dem richtigen pH-Wert können davon die Proteine abgetrennt werden. Am Ende bleibt ein Feststoff, der weiterverarbeitet werden kann.

Und dafür werden nicht sackweise Chemikalien verwendet?
(lacht) Nein. Dafür werden nicht sackweise Chemikalien verwendet. Der Prozess ist kein Hexenwerk. Er darf ja auch nicht zu teuer werden.

Der Feststoff, den Sie erwähnten, der wird dann zum Fleischersatzprodukt?
Das geschieht zum Beispiel durch Extrusion. Dabei werden Zutaten vermischt und mit einer Art Schnecke durch eine Düse gepresst. Durch Druck und hohe Temperaturen entsteht dann in Abhängigkeit von den Bedingungen eine klumpige oder eine fasrige Textur. Auch das ist ein anschauliches Beispiel für die Inkonsistenz von NOVA. Denn zur Herstellung von Nudeln wird ein vom Aufbau her ähnlicher Prozess angewendet – dieser wird aber nicht als Extrusion gewertet.

Ein Vorwurf, den man öfter hört, lautet, dass in Fleischersatzprodukten Chemikalien verwendet würden, die nachher nicht in der Zutatenliste auftauchen.
Jeder Zusatzstoff, der in einem Produkt zugefügt wird, muss in der Zutatenliste aufgelistet werden. Was Sie vielleicht ansprechen, sind sogenannte Verarbeitungshilfsstoffe. Sie tauchen nicht in der Zutatenliste auf, weil sie am Ende im Produkt nicht mehr oder nur noch in technisch unvermeidbaren Mengen vorkommen.

Wer sich also gesund ernähren will, kommt um das Studium der Nährwertetabelle nicht herum. Ich benutze dafür eine App, die mich auch noch vor gefährlichen Zusatzstoffen warnt.
Wer sich gesund ernähren will, sollte vorwiegend darauf schauen, wie die Energiedichte eines Lebensmittels ist, wie viel beziehungsweise welche Art Fett enthalten ist – und wie viel Zucker. Die Zuschreibung von Schädlichkeit mancher Zusatzstoffe ist in meinen Augen nicht sinnvoll. Auch da herrscht Aufklärungsbedarf.

Ihre Aussage steht dem aktuellen Common Sense – möglichst keine Zusatzstoffe zu sich zunehmen – extrem entgegen. Und untergräbt auch mein Argumentarium, meinen Kindern gewisse Trend-weil-auf-Tiktok-Chips zu verbieten. Meine App warnt mich nämlich, dass da verschiedene riskante Stoffe drin sind. Konkret: E310 zum Beispiel (Propylgalat), E320 (Butylkydroxyanisol) und E621 (Natriumglutamat).
Ich finde es etwas befremdlich, wenn eine App aus dem blossen Vorliegen eines Stoffes ein Risiko ableitet. Ein Risiko resultiert aus der Kombination der Gefahr, die von einem Stoff ausgeht, und der Exposition, das heisst, ob wir den Stoff aufnehmen beziehungsweise wie viel wir aufnehmen. Und eine Risikobewertung auf Basis dieser beiden Faktoren wurde und wird bei Zusatzstoffen im Detail vorgenommen. Im Rahmen der Bewertung werden die jeweiligen Zusatzstoffe über einen langen Zeitraum an Tiere verfüttert.

Bei manchen Stoffen sieht man gar keinen Effekt, bei manchen treten in hohen Mengen negative Effekte auf. Dann nimmt man die höchste Dosis, die noch vertragen wird, und errechnet mit einem grossen Sicherheitsfaktor, üblicherweise 100, die akzeptable Tagesdosis für den Menschen. Mithilfe dieser werden dann Mengen festgelegt, die in verschiedenen Lebensmitteln eingesetzt werden dürfen, wobei man insbesondere auch auf die Menge schaut, in denen ein Lebensmittel jeweils konsumiert wird.

Man wird sich also nicht vergiften, wenn man ab und zu ein paar Chips isst. Die Kennzeichnung von Glutamat als riskant ist besonders kurios: Nicht nur, weil die Studienlage das nicht hergibt, sondern auch, weil sehr viele Lebensmittel natürlicherweise einiges an Glutamat enthalten. Aber niemand würde auf die Idee kommen, Tomaten als riskant einzustufen.

Ich würde primär auf die Nährwerte schauen – und wenn eine App da hilft, warum nicht. Wenn man aber ein Produkt hat, das einem gut schmeckt – und das keine ungünstigen Nährwerte hat, dann würde ich es nicht ins Regal zurückstellen, nur weil da ein Zusatzstoff drin ist.

Aber zu Hause, wenn ich das Produkt selbst herstelle, dann brauche ich den Zusatzstoff nicht.
Sie müssen das Lebensmittel auch nicht lange zu Hause lagern und erwarten nicht, dass es nach der Lagerzeit noch genauso schmeckt wie nach der Herstellung. Natürlich wäre es toll, wenn wir alle immer nur frisch kochen könnten – realistisch ist das aber, aus kulturellen Gründen und auch aus versorgungstechnischer Sicht, nicht. Wir können uns nicht alle immer nur frische Lebensmittel kaufen. Und ich würde mal behaupten, dass es den Leuten im Winter recht schnell langweilig werden würde, wenn wir ausschliesslich saisonal essen würden. Ich verstehe das Bedürfnis, das «Natürliche» zu romantisieren. Aber wenn man sich vertiefter damit auseinandersetzt, dann merkt man schnell, dass auch die Natur nur Chemie ist – und Naturprodukte eine Zusammensetzung von sehr vielen Chemikalien. Und leider meint es die Natur auch nicht immer gut mit uns.

Sie sprechen giftige Naturprodukte an?
In grünen Bohnen beispielsweise ist ein giftiger Stoff drin, der wirkungslos wird, wenn man sie abkocht. Stellen Sie sich vor, wir würden sie künstlich herstellen – die Leute würden nur den Kopf schütteln. Die Natur ist durchaus fähig, sehr viele schädliche Stoffe in ein Lebensmittel zu packen. Das ist genauso Chemie, wie wenn man im Lebensmittellabor was zusammenstellt. Die Annahme, dass die Natur uns nur Gutes bereithält, stimmt einfach nicht.

veröffentlicht: 20. September 2024 22:07
aktualisiert: 20. September 2024 22:07
Quelle: watson

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