«Wer die Vagantität erfolgreich bekämpfen will, muss versuchen, den Verband des fahrenden Volkes zu sprengen, er muss, so hart das klingen mag, die Familiengemeinschaft auseinander reissen.» So formulierte Alfred Siegfried 1943 das Ziel des von ihm gegründeten «Hilfswerks» und sah darin eine Lösung in der weit verbreiteten Meinung, dass die fahrende Lebensweise für die jenischen Kinder eine Gefahr darstellt. Alfred Siegfried war von 1924 bis 1959 Mitarbeiter des Zentralsekretariats der Pro Juventute und gründete das Hilfswerk als «Projekt» der Stiftung.
Während fast 50 Jahren verfolgte das Hilfswerk damit systematisch das Ziel, den jenischen Kindern die fahrende Lebensweise auszutreiben und ihre Kultur damit auszulöschen. Die jenischen Kinder wurden in Kinderheime, Pflegefamilien und Erziehungsanstalten gesteckt, wo sie Gewalt erfuhren und als Arbeitskräfte missbraucht wurden. In einigen Fällen wurden Zwangssterilisationen durchgeführt und Eheverbote auferlegt.
Unterstützung von allen Seiten
Die Kindswegnahmen hat das «Hilfswerk» zusammen mit den Vormundschaftsbehörden organisiert. Im Kanton Graubünden waren die meisten jenischen Familien betroffen, aber auch die Kantone St. Gallen, Tessin und Zürich nahmen verhältnismässig viele Fremdplatzierungen vor.
Zählt man nur die Kindswegnahmen, welche vom «Hilfswerk» in Auftrag gegeben wurden, sind es über 600 Jenische, die betroffen waren. Rechnet man die Fremdplatzierungen, welche von den kommunalen und kantonalen Behörden direkt ausgeführt wurden, dazu, waren schätzungsweise rund 2000 Kinder betroffen.
Nebst der Unterstützung der Gemeinden und Kantone trug auch der Bund dazu bei, dass das «Hilfswerks» seinen Tätigkeiten nachgehen konnte. Während mehreren Jahrzehnten unterstütze er es finanziell – insgesamt mit über 400'000 Franken. Dieser Subventionierung ist aber nicht nur ein finanzieller Wert beizumessen: Der Staat signalisierte damit, dass er die Tätigkeiten des «Hilfswerks» als positiv und unterstützenswert erachtet. Schlussendlich ist es aber auch das hohe Ansehen, welches die Pro Juventute (wozu das «Hilfswerk» gehörte) dazumal genoss, das es ermöglichte, über so viele Jahre hinweg jenische Familien auseinanderzureissen.
Aufarbeitung und finanzielle Entschädigung
Die Jenischen mussten lange dafür kämpfen, dass das Unrecht, welches ihnen im Rahmen der Aktion «Kinder der Landstrasse» angetan wurde, aufgearbeitet wird und sie eine «Wiedergutmachung» erhielten. 1988 wurde eine Akten- und Fondskommission eingesetzt, mit dem Ziel, den Betroffenen Einsicht in ihre Akten zu ermöglichen. In diesem Zuge wurden den Opfern innerhalb von vier Jahren finanzielle Entschädigungen in der Höhe von insgesamt 11 Millionen Franken entrichtet – pro Person maximal 20'000 Franken.
Seit wenigen Jahren können jenische Betroffene im Rahmen der Solidaritätsbeiträge für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierte weitere 25'000 Franken beantragen. Im Vergleich zu dem, was den Jenischen über Jahrzehnte hinweg angetan wurde, ist dies aber nur ein symbolischer Betrag.