Ein Jahr nach dem Angriff

Wie lange dauert der Krieg in der Ukraine noch?

24.02.2023, 06:05 Uhr
· Online seit 24.02.2023, 05:59 Uhr
Am 24. Februar 2022 passierte das, was zwar viele befürchteten, aber niemand für wirklich möglich gehalten hatte: Russland hat die Ukraine angegriffen und startete damit einen brutalen Krieg, der bis heute – ein Jahr später – noch immer andauert. Historiker Kai Johann Willms schätzt für uns die kommenden Monate ein.
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Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine angegriffen. Seither ist ein Jahr vergangen, der Konflikt dauert allerdings noch immer an. Erst kürzlich gab es wieder Waffenlieferungen. Wie wird es wohl die nächsten Monate weitergehen?

«Nach den erfolgreichen ukrainischen Gegenoffensiven in den Gebieten Charkiw und Cherson im Herbst letzten Jahres befindet sich der Krieg derzeit wieder in einer Phase, in der sich die Frontlinie kaum bewegt. Beide Seiten scheinen sich auf eine Frühjahrsoffensive vorzubereiten. Russland setzt dabei vor allem auf Quantität, also eine grosse Zahl mobilisierter Soldaten. Die Ukraine wird versuchen, dem eine höhere Qualität der Ausrüstung entgegenzusetzen, wobei die westlichen Waffenlieferungen natürlich eine entscheidende Rolle spielen», sagt der Basler Historiker Kai Johann Willms gegenüber der Today-Redaktion.

Ein «von manchen im Westen herbeigesehnter Verhandlungsfrieden» sei in nächster Zeit allerdings nicht zu erwarten, da «sowohl Russland als auch die Ukraine noch Hoffnung darauf haben, ihre Ziele militärisch zu verwirklichen und entsprechend wenig Bereitschaft für Kompromisse zeigen», erklärt Willms weiter.

Der Westen hat die Ukraine unterschätzt

«Der Verlauf des Krieges hat in jedem Fall gezeigt, dass einige bislang im Westen verbreitete Vorstellungen über Russland und die Ukraine korrigiert werden mussten. Der erstaunlich geschlossene Widerstand der Ukrainer hat all jene widerlegt, die behauptet haben, bei der Ukraine handele es sich um eine ‹künstliche› oder tief gespaltene Nation», so Willms. «Als es 2013/14 zur pro-europäischen Revolution in der Ukraine kam, waren tatsächlich noch viele Menschen im Osten und Süden des Landes nicht einverstanden mit dem neuen Kurs.» Dies habe sich dann allerdings durch die fortgesetzte Aggression Putins und die publik gewordenen Gräueltaten der russischen Besatzer geändert, sodass mittlerweile auch eine überwältigende Mehrheit der russischsprachigen Ukrainer loyal zu ihrem Nationalstaat stehe.

Der Gegner Putin eint die ukrainische Nation

Für wen es in den nächsten Monaten definitiv ungemütlich werden dürfte, ist Präsident Putin. Dessen Plan dürfte laut Willms nämlich zum Teil nach hinten losgehen: «Obwohl Putin das Ziel verfolgt, grosse Teile der Ukraine in ein neo-imperiales Russland einzugliedern, erweist er sich damit unfreiwillig als Beschleuniger der ukrainischen Nationsbildung. Darin könnte auch eine historische Bedeutung des Krieges bestehen: Falls sich in den kommenden Monaten das Blatt nicht deutlich zugunsten Russlands wendet, könnte Putin als Präsident in die Geschichte eingehen, der das zerfallene Imperium definitiv verspielt hat», vermutet Willms.

Ist der Rest von Europa bald auch Ziel eines Angriffes?

Lange war ein Krieg wie er gerade in der Ukraine stattfindet, für viele Europäer und Europäerinnen undenkbar. Nun findet er seit einem Jahr praktisch vor unserer Haustür statt. Grund, sich Sorgen zu machen?

Willms erklärt dazu: «Europa sollte sich darauf einstellen, dass Russland für längere Zeit eine autoritär geführte revanchistische Macht bleiben, die Abkühlung der politischen Beziehungen anhalten und sich die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entflechtung fortsetzen wird. Ein militärischer Angriff Russlands auf Mitgliedsstaaten der NATO ist aber äusserst unwahrscheinlich, da auch der russischen Regierung klar ist, dass eine solche Auseinandersetzung nuklear eskalieren könnte, mit katastrophalen Folgen für Russland selbst.»

Es sei jedoch anzunehmen, dass Russland sich weiterhin der Methoden des Cyberkrieges und der Desinformation bedienen wird, um die Funktionsweise westlicher Demokratien zu beeinträchtigen und Divergenzen innerhalb des westlichen Bündnisses zu verstärken.

Die Rolle von China und den USA

«Trotz aller politischen Spannungen zwischen den USA und Europa auf der einen sowie Russland und China auf der anderen Seite halte ich die Rückkehr zu einer starren Blockkonfrontation wie vor 1989/91 für unwahrscheinlich. Dagegen spricht die gegenwärtig multi- statt bipolare Struktur des internationalen Systems», führt Willms aus. China, das heute ein ganz anderes weltpolitisches Gewicht besitze als während des Kalten Krieges, bekenne sich zwar immer wieder zur engen politischen Zusammenarbeit mit Russland – die Interessen der beiden Staaten seien aber nicht völlig deckungsgleich, und bislang habe sich China auch geweigert, Russlands Krieg in der Ukraine etwa durch Waffenlieferungen aktiv zu unterstützen.

Ist eine direkte Konfrontation zwischen China und den USA, etwa infolge eines chinesischen Angriffs auf Taiwans, eine realistische Gefahr? Willms: «Es ist unklar, welche Schlussfolgerungen Xi Jinping aus dem Verlauf des Krieges in der Ukraine zieht. Er könnte zu dem Schluss kommen, dass die Anwendung militärischer Mittel mit grossen Kosten und Risiken verbunden ist. Ebenso könnte er konstatieren, dass Putin trotz eines aus russischer Sicht wenig zufriedenstellenden Kriegsverlaufs fest im Sattel sitzt und der Westen nicht in der Lage ist, einen Regimewechsel herbeizuführen.»

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(umt/sib)

veröffentlicht: 24. Februar 2023 05:59
aktualisiert: 24. Februar 2023 06:05
Quelle: ArgoviaToday

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