Als nach dem Sieg gegen die unter neutrale Flagge angetretenen Russinnen die Schweizer Nationalhymne ertönte, wurde selbst der sich seit Sommer 2019 im Amt befindende Trainer Colin Muller von den Emotionen überwältigt. Er, der im Eishockey schon vieles erlebt und schon einige Erfolge gefeiert hat. Beispielsweise war er als Trainerassistent dabei, als die Schweizer Männer 2013 in Stockholm WM-Silber holten. Das unterstreicht die Bedeutung dieses Erfolges.
Die Schweizerinnen bewiesen eine grosse Moral, waren sie doch bis zur 9. Minute 0:2 in Rückstand geraten, und dieses Resultat hatte bis zur 50. Minute Bestand. Die Mannschaft glaubte jedoch weiter an sich, obwohl sie bei den vier verlorenen Gruppenspielen bloss einen Treffer erzielt hatte (beim 1:3 gegen die Russinnen) und erst noch ohne die zuvor einzige Torschützin, die am Sprunggelenk verletzte Alina Müller, auskommen musste.
Teamleaderin Lara Stalder sagte, dass einige Spielerinnen Parallelen zu den Winterspielen 2014 in Sotschi gesehen hätten, als die Schweizerinnen im Spiel um Bronze gegen Schweden nach 40 Minuten ebenfalls 0:2 hinten gelegen hatten. «2:0 ist die schlimmste Führung im Eishockey», führte Stalder aus. «Alle wussten, dass wir einfach weiterrollen und uns niemand aufhalten kann, sobald wir ein Tor erzielt haben.»
Zudem hatten die Schweizerinnen aufgrund des speziellen Modus das Viertelfinal-Ticket schon vor dem Turnierstart auf sicher, da sie aufgrund der Weltrangliste in der leistungsstärkeren Gruppe A spielten. Von daher war der Hauptfokus von Anfang an auf diese Partie gerichtet, und tatsächlich schafften es die Schweizerinnen, am Tag X bereit zu sein. «Wir mussten dieses Spiel einfach gewinnen», sagte Evelina Raselli, die für das 1:2 verantwortlich gezeichnet hatte.
Es ist der Lohn dafür, dass die Frauen seit dem Bronzemedaillengewinn in Sotschi mehr gefördert werden, verschiedene Projekte lanciert wurden. Seit vergangenem Jahr trainieren zwölf Förderspielerinnen im Topzentrum OYM in Cham, wo auch die WM-Vorbereitung stattfand. «Es ist sehr viel gegangen in den letzten Jahren», sagte Daniela Diaz, die Managerin der Frauen-Nationalmannschaften. Für Muller gibt es im Moment, was das OYM betrifft, «nichts Vergleichbares auf der ganzen Welt.» Die Voraussetzungen für eine grössere Breite sind also gut.
Zum dritten Mal in den Top 4 einer WM
Die Schweizerinnen schafften zum dritten Mal nach 2008 und 2012 an einer Weltmeisterschaft den Sprung in die Top 4. 2008 gelang ihnen dies über eine Qualifikationsrunde der drei Gruppenzweiten der Vorrunde, Viertelfinals gibt es erst seit 2011. In der K.o.-Runde standen die Schweizerinnen zum sechsten Mal, und zum fünften Mal hiess der Gegner im Viertelfinal Russland - wie auch an den Olympischen Winterspielen 2014 und 2018. In Calgary überwanden sie diese Hürde zum dritten Mal. Nach den ersten beiden Siegen in diesen Spielen gegen die Osteuropäerinnen gewannen sie in der Folge Bronze - 2012 an der WM und eben 2014 an den Winterspielen. Ein gutes Omen?
Die erste Chance, auch diesmal mit einer Medaille nach Hause zu reisen, erhalten die Schweizerinnen in der Nacht auf Dienstag im Halbfinal gegen Kanada. Die Gastgeberinnen sind zwar mit zehn Titeln Rekordweltmeisterinnen, die letzte Goldmedaille liegt allerdings bereits neun Jahre zurück. Seither stemmten stets die Amerikanerinnen den Pokal in die Höhe. Vor zwei Jahren an der letzten WM verloren die Kanadierinnen gar im Halbfinal an Finnland (2:4). Diese Scharte wollen sie unbedingt ausmerzen, während die euphorisierten Schweizerinnen völlig befreit aufspielen können.