Seit seinem 2. Platz in der 5. Etappe, als er im ersten Zeitfahren dieser Frankreich-Rundfahrt nur von Tour-Dominator Tadej Pogacar geschlagen wurde, hatte Küng immer dieses zweitletzte Teilstück im Hinterkopf, das ihm die Chance zur Revanche bieten und den langersehnten ersten Etappenerfolg beim wichtigsten Radrennen der Welt bringen sollte. Denn schon 2017, als er als Tour-Debütant beim Prolog in Düsseldorf hinter dem späteren Tour-Gewinner Geraint Thomas Zweiter geworden war, hatte er am grossen Sieg geschnuppert.
Im Vergleich zu damals, als ihn noch kaum jemand auf der Rechnung hatte, war Küng diesmal der grosse Favorit. Zum einen, weil er im Gegensatz zu Pogacar und Co. in den letzten Tagen einige Körner in den Bergen hatte sparen können, zum anderen, weil die 30,8 km lange Prüfung gegen die Uhr in der Region von Bordeaux aufgrund der Länge und des ziemlich flachen Profils ganz auf seine Fähigkeiten als starker Roller zugeschnitten war.
Übermotiviert und übers Limit
Es hätte also der grösste Tag in der Karriere des 27-Jährigen aus Frauenfeld werden sollen. Am Ende blieb aber nur die Enttäuschung. Denn nach starker erster Zwischenzeit zeigte sich ziemlich bald, dass Küng nicht wie erhofft «alle zu Boden fahren» würde, wie er es später im Interview formulierte. Am Ende reichte seine Leistung nur zu Platz 4, unmittelbar hinter ihm klassierte sich mit Stefan Bissegger der zweitbeste Schweizer.
«Ich habe mich extrem gut gefühlt vor dem Start, wollte den Sieg unbedingt und war dadurch vielleicht etwas übermotiviert» gab sich Küng selbstkritisch und tief enttäuscht zugleich. «Ich startete zu schnell und bezahlte hinten raus dafür. Wenn du einmal übers Limit gehst, erholst du dich nicht mehr davon», analysierte der 27-Jährige vom Team Groupama-FDJ.
Van Aert doppelt nach
Statt für Küng schien die Sonne bei sommerlichen Temperaturen am Ende für Wout van Aert. Der Alleskönner aus Belgien nahm dem Schweizer im Ziel 38 Sekunden ab und setzte sich mit einem beachtlichen Vorsprung von 21 Sekunden vor dem zweitplatzierten Dänen Kasper Asgreen durch. Für Van Aert war es bereits der zweite Tagessieg in dieser Tour, nachdem er letzte Woche die schwierige Ventoux-Etappe für sich entschieden hatte. Insgesamt feierte Van Aert seinen fünfte Etappenerfolg im Rahmen der Frankreich-Rundfahrt - den ersten in einem Zeitfahren.
Dies macht ihn zugleich zum Favoriten auf Olympia-Gold. An ein gutes Abschneiden in Tokio glaubt weiterhin auch Küng: «Wie sagt man so schön: ‹Wenn die Hauptprobe missglückt, wird es umso schöner bei der Premiere›», blickte er mit Zuversicht noch vorne.
Keine weitere Machtdemonstration von Pogacar
Noch steht am Sonntag aber die 21. und letzte Tour-Etappe im Programm, die in Chatou gestartet wird und nach 108,1 km auf den Champs-Elysées endet. Während die Sprinterfraktion um Mark Cavendish um den letzten Tagessieg buhlt, wird es Tadej Pogacar etwas ruhiger angehen können. Der Vorjahressieger aus Slowenien wird erneut als Gesamtsieger in Paris einfahren. Das Zeitfahren am Samstag beendete Pogacar mit 57 Sekunden Rückstand im 8. Rang.
Sein Vorsprung vor der Schlussetappe, in welcher der Leader traditionellerweise nicht mehr angegriffen wird, beträgt aber immer noch 5:20 Minuten auf den Dänen Jonas Vingegaard. Als Tagesdritter verteidigte dieser seinen 2. Platz in der Gesamtwertung gegenüber Richard Carapaz aus Ecuador.