Hannah Arendt: Warum ihr Denken uns noch heute beschäftigt
Arendt selbst sah sich als politische Theoretikerin, nicht als Philosophin und nicht als Historikerin. Sie befasste sich mit nahezu allen zentralen Themen des 20. Jahrhunderts: Die Lage von Geflüchteten, die Ursprünge politischer Gewalt, Totalitarismus – aber auch mit der Unbegreiflichkeit des Bösen.
Themen, die uns noch heute beschäftigen, wie ein Fernsehinterview aus dem Jahr 1964 mit Günter Gaus über das Wesen des Bösen und die Bedeutung von Freiheit in der modernen Zeit verdeutlicht. Das Gespräch, aus dem noch heute oft zitiert wird, ist über 50 Jahre alt. Die Tonqualität ist schlecht, das Bild schwarz-weiss. Und trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb, zählt der Mitschnitt auf YouTube heute knapp 1,2 Millionen Klicks.
Staatenlos und in der Fremde zu Hause
Geboren 1906 als deutsche Jüdin, floh Hannah Arendt 1933 nach Paris, bis sie sieben Jahre später auch dort vertrieben wurde und als Staatenlose – die deutsche Staatsbürgerschaft wurde ihr aberkannt – nach New York kam. Beides Mal gelang ihr die Flucht nur knapp.
Als der Erste Weltkrieg endete, war sie zwölf. Dass sie Jüdin ist, wurde ihr erst bewusst, als sie in der Schule antisemitisch angefeindet wurde. In dem Fernsehinterview mit Günter Gaus sagte sie dazu folgendes: «Das Wort ‹Jude› ist bei uns nie gefallen als ich ein kleines Kind war. Es wurde mir zum ersten Mal entgegengebracht durch antisemitische Bemerkungen – es lohnt sich nicht zu erzählen – von Kindern auf der Strasse. Daraufhin wurde ich also sozusagen ‹aufgeklärt›.»
Wenn das Böse banal ist
Hannah Arendt war eine kontroverse Denkerin, vertraute ihrem Urteil mehr als den Meinungen anderer und stiess damit nicht selten auf Widerstand und Missverständnis. So auch mit ihrem wohl bekanntesten Buch «Eichmann in Jerusalem», in welchem sie die These von «der Banalität des Bösen» aufstellte. Adolf Eichmann, SS-Obersturmbannführer und einer der Drahtzieher in der Deportation von Millionen von Juden, wurde 1961 in Jerusalem der Prozess gemacht. In Eichmann sah Arendt eine neue Spezies des Bösen, welche davor so nicht existierte oder zumindest nicht beobachtet wurde. So war Eichmann für Arendt lediglich ein «geölter Bürokrat», ein Rädchen im System, das «einfach unfähig war, zu denken». Einer, der sich als blosses Werkzeug seiner Vorgesetzten entpuppte. Kritiker warfen ihr vor, sie habe mehr Verständnis für die Täter als für die Opfer; dass sie den Nationalsozialismus verharmlose. Dabei wollte sie alles andere als verharmlosen, sondern wahrhaftig verstehen, wie es zu so etwas wie den Verbrechen des Nationalsozialismus kommen konnte.
Was den Eichmann-Prozess angeht, gibt es heute tatsächlich neue Erkenntnisse, die beweisen, dass Eichmann alles andere als ein nichts ahnender Schreibtischtäter sondern ein überzeugter Nationalsozialist und Antisemit war. Auch wenn Eichmann das falsche Beispiel war, wäre es falsch, Arendts Theorie der Banalität des Bösen grundsätzlich infrage zu stellen oder zu schmälern. Denn: Arendt hat mit ihrer These auf das Verhältnis zwischen Totalität und Mitläufertum hingewiesen, darauf, welche Mitverantwortung ein Einzelner in einem bestehenden System trägt.
Was bleibt, ist das Verständnis von Freiheit und vom eigenständigen Denken
Neben der Frage, wie es zum Nationalsozialismus kommen konnte, beschäftige Arendt auch, wie totalitäre Systeme in Zukunft verhindert werden können. Arendt war überzeugt, dass Totalitarismus jegliche Arten von Vielfalt und Pluralität unterdrückt und nur dadurch funktionieren kann. Nur wenn der Mensch als Individuum nicht mehr selber nachdenkt, lässt sich die totale Kontrolle über ihn erhalten. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen im zweiten Weltkrieg war Hannah Arendt überzeugt, dass Gemeinschaft nicht durch ein gemeinsames Werteverständnis und gleiche Ideologien, sondern durch Pluralität und Differenzen geschaffen würde.
Im Alter von 69 Jahren starb Hannah Arendt am 4. Dezember 1975 in New York. Zeitlos aktuell werden ihre philosophischen und gesellschaftspolitischen Theorien auch heute noch viel gelesen und zitiert. Denn Arendt hatte keine Angst zu urteilen, vertraute auf ihre eigenen Beobachtungen und Erfahrungen und forderte von jedem Einzelnen, selbst zu denken und sich von Gruppenmeinungen fernzuhalten. Eine Botschaft, die in Zeiten von weltweiter Migration, gefährdeter Pressefreiheit und Aushöhlung der Demokratie aktueller ist denn je.
Gewiss wäre es falsch, Arendts Thesen eins zu eins in unsere moderne Welt zu adaptieren. Aber wir können von ihr lernen, «ohne Geländer» zu denken.