Kompakt

Alle wichtigen Fragen und Antworten zur aktuellen Lage in Afghanistan

· Online seit 22.08.2021, 11:36 Uhr
Am letzten Sonntag haben die Taliban den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Kabul eingenommen. Damit sind alle grossen Städte in Afghanistan unter terroristisch-militärischer Herrschaft. Wie konnte sich die Lage in derart kurzer Zeit so zuspitzen und wer sind die Taliban eigentlich? Hier findest du alle wichtigen Fragen und Antworten zur aktuellen Lage in Afghanistan.
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Wer sind die Taliban und was wollen sie?

Die Taliban sind eine 1994 gegründete islamisch-fundamentalistische Terrororganisation mit bewaffneten Milizen in Afghanistan und Pakistan. Ihren Ursprung hat die Bewegung in Koranschulen in Pakistan, wo afghanische Männer studierten, die vor der sowjetischen Besatzung ab 1979 geflohen waren. Der Name kommt vom arabischen Wort Talib, was so viel heisst wie «Schüler» oder «Suchender».

Vor dem Einmarsch der US-Truppen im Jahr 2001 beherrschten die Taliban bereits grosse Teile Afghanistans. Damals setzten die Aufständischen mit drakonischen Strafen ihre Vorstellung eines «Gottesstaats» durch: Frauen und Mädchen wurden systematisch unterdrückt, Künstler und Medien zensiert, Menschenrechtsverletzungen waren an der Tagesordnung. Zu den Taliban gehören laut Schätzungen der NATO derzeit etwa 85’000 Kämpfer – so viele wie nie zuvor.

Woher haben sie ihr Geld und ihre Waffen?

Nach UN-Annahmen werden die Einnahmen der Taliban auf 300 Millionen bis 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt, die sie in erster Linie durch die Produktion und den Export illegaler Rauschgifte, Erpressung und andere kriminelle Machenschaften erzielen.

Die Regierung in Washington sowie die ehemalige Regierung in Kabul werfen zudem Pakistan, Iran und Russland vor, mit den Taliban zu sympathisieren, diese mit Waffen auszustatten und beratend zur Seite zu stehen. Alle drei Länder weisen die Vorwürfe zurück.

Wie ist es zur Machtübernahme der Taliban gekommen?

Im Februar letzten Jahres unterzeichnete der ehemalige US-Präsident Donald Trump ein Friedensabkommen mit den Taliban. Die Taliban verpflichteten sich darin, die Gewalt in Afghanistan zu reduzieren und die Zusammenarbeit mit extremistischen Gruppierungen zu kappen. Im Gegenzug versicherte Trump einen vollständigen Truppenabzug bis im Mai 2021.

Am 1. Mai 2021 hat US-Präsident Joe Biden offiziell mit dem Abzug internationaler Truppen aus Afghanistan begonnen, danach ging alles Schlag auf Schlag: Keine zwei Wochen hat es gedauert, um 20 Jahre militärische Zusammenarbeit ungeschehen zu machen. Provinz um Provinz wurde daraufhin von den Taliban eingenommen, bis sie am vergangenen Sonntag (15. August) den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Kabul eingenommen und die endgültige Machtübernahme verkündet haben. Der bisherige afghanische Präsident Aschraf Ghani ist daraufhin ins Exil geflüchtet. Mittlerweile ist klar: Er befindet sich in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Das Aussenministerium des Golfstaates bestätige Ende Woche, dass das Land ihn und seine Familie «aus humanitären Gründen» aufgenommen habe. Aschraf Ghani begründete die Flucht damit, dass er «ein Blutbad hatte verhindern wollen.»

Was bedeutet die Machtübernahme der Taliban für die Stellung der Frau im Land?

Während der Regierungszeit der Taliban von 1996 bis 2001 hatten Frauen in der Gesellschaft so gut wie keine Rechte, wurden systematisch unterdrückt. So wurde ihnen weder eine höhere Schulbildung gewährt, noch durften sie das Haus ohne Burka und männliche Blutsverwandte verlassen. Nach der Schreckensherrschaft erkämpften sich Aktivistinnen die Frauenrechte zurück. Frauen durften genau wie die Männer zur Schule gehen, studieren und einem Beruf nachgehen. Auch die Vollverschleierung wurde aufgehoben.

Zwar versicherten die Taliban in ihrer ersten Pressekonferenz nach der Machtübernahme, dass die Rechte der Frauen gewahrt werden würden – und zwar im Einklang mit der Scharia. So sollten Mädchen und Frauen weiterhin zur Schule und Universität gehen können, auch arbeiten sei erlaubt. Sie dürften das Haus zwar ohne männliche Begleitung verlassen, das Kopftuch sei jedoch Pflicht, die Burka freiwillig. Ebenfalls sollten Frauen Teil der Regierung werden. Trotz dieser vielversprechenden Aussagen fürchten viele Frauen massive Repressionen, denn im Gegensatz dazu berichteten verschiedene Medien, dass Taliban-Kämpfer von Tür zu Tür gehen würden und nach Mädchen suchten, um diese als Sexsklavinnen zu verschleppen. Mehreren Berichten zufolge gehen die Taliban dabei äusserst brutal vor. So seien Personen ausgepeitscht und geteert worden oder hätten barfuss durch die Strassen rennen müssen.

Wie ist die aktuelle Lage in Afghanistan?

Es waren schreckliche Szenen, die sich nach Einzug der Taliban in den Präsidentenpalast am Flughafen in Kabul abspielten: Zahlreiche Afghanen und Afghaninnen versuchten verzweifelt, über einen der Evakuierungsflüge westlicher Staaten das Land zu verlassen. Die Taliban feuerten Warnschüsse ab, schiere Verzweiflung machte sich breit. Seit letzten Sonntag sind zwölf Menschen bei Massenpaniken gestorben oder erschossen worden, wie ein Taliban-Beamter am Donnerstag, 19. August, gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters bestätigte.

Die Lage rund um den Flughafen sei noch immer chaotisch, so einheimische Helfer und NGOs gegenüber verschiedenen Medien. Eine CNN-Journalistin beschrieb Ähnliches, sprach gar von einem «Tornado des Wahnsinns». Laut ihren Angaben würden Mütter ihre Babys über den Zaun werfen, um sie in Sicherheit zu bringen. Ausserdem würden die Taliban äusserst brutal vorgehen, die Menschen mit Peitschen und Waffen zurückhalten.

Welche Rolle spielt die Schweiz?

Am Mittwoch, 18. August, gab der Bund an einer Medienkonferenz bekannt, dass die Schweiz 230 Flüchtlinge aufnehmen will. Für die SP, die Grünen und verschiedene Hilfsorganisationen ist dies zu wenig. Sie fordern, dass 10'000 afghanischen Flüchtlingen Asyl in der Schweiz gewährt werden soll. Die Rechte jedoch warnt vor einer Flüchtlingswelle und setzt stattdessen auf humanitäre Hilfe vor Ort. Der Bundesrat lehnte dies jedoch ab. Die Situation in Afghanistan sei derzeit noch zu chaotisch. Man wisse nicht, welche Menschen schutzbedürftig seien, so Bundesrätin Karin Keller-Sutter.

(noë)

veröffentlicht: 22. August 2021 11:36
aktualisiert: 22. August 2021 11:36
Quelle: ArgoviaToday

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