Im Kampf gegen eine vierte Corona-Welle hatte Staatschef Emmanuel Macron Mitte Juli eine Impfpflicht für Personal im Gesundheitswesen und eine Ausweitung des sogenannten Gesundheitspasses angekündigt. Beides stiess sofort auf heftige Kritik, wurde aber vom Parlament gebilligt. Grünes Licht gab es nun auch vom Verfassungsrat dafür, in Bars, Restaurants, Fernzügen und sogar teils in Krankenhäusern einen negativen Corona-Test, einen Impf- oder Genesungsnachweis zeigen zu müssen. Nach Willen der Regierung soll dies nun ab kommender Woche gelten.
Für viele Demonstranten geht das zu weit. Sie sehen in den neuen Vorschriften eine Einschränkung ihrer Freiheiten. Manche haben auch Angst vor langfristigen Impffolgen und fühlen sich von der Regierung zunehmend zur Immunisierung gedrängt. Sorgen, die Macron derzeit in Minivideos auf Instagram auszuräumen versucht. Doch die Kritik geht noch weiter. «Es ist nicht nur der Gesundheitspass, den die Demonstranten in Frage stellen, sondern auch der als zu autoritär und polarisierend empfundene Regierungsstil Macrons», sagt der Politikwissenschaftler Jean-Yves Camus der Deutschen Presse-Agentur.
Auch der Protestforscher Johannes Becker sieht in der Coronapolitik nur einen Auslöser der Proteste. «Die Impfregeln waren zum Teil ungeheuerlich hart und das hat natürlich dazu geführt, dass das Feuer sich so schnell ausgebreitet hat», beschreibt Becker im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur die Entwicklung der vergangenen Wochen. «Aber die sozialen Probleme im Hintergrund wirken als Brandbeschleuniger für Fehler in der Pandemiepolitik.»
Denn die Schere zwischen Arm und Reich sei in den vergangenen Jahren weiter auseinandergegangen. Hinzu kämen die Probleme in den Vorstädten, die Nichtintegration von Migranten. Es sei gar nicht erst versucht worden, diese offenen Probleme zu lösen.
Mit dem Herbst will Frankreich die Impfpflicht kontrollieren und auch an den Schulen strengere Regeln für Nicht-Geimpfte einführen. Tests sollen dann kostenpflichtig sein, ungeimpftem Gesundheitspersonal drohen dann Lohnausfälle. «Die Gefahr für die Regierung ist, dass die Bewegung zum Schuljahresbeginn weitergeht», sagt Camus.
Für Macron könnten anhaltende Proteste zu einem ernsthaften Problem werden. Immerhin stehen im Frühjahr Präsidentenwahlen an. Die Regionalwahlen Ende Juni hatten keinen grossen Rückhalt für den Staatschef in der Bevölkerung gezeigt. Camus vermutet, dass ein guter Teil der Demonstranten der Wahl gleich komplett fern bleiben könnte. Anhaltende Proteste würden den Wahlkampf zudem durch eine Verschiebung der Themen stören. Für Becker ist der Vorwahlkampf aber auch ein Grund dafür, dass die Proteste weitergehen könnten. «Das Land ist in einem Umdenken.»
Bisher ist die Anti-Corona-Bewegung in der Unterzahl. Camus verweist auf die zahlreichen Menschen, die sich in Frankreich haben impfen lassen - mittlerweile etwa zwei Drittel der Bevölkerung.
Doch auch wenn sie nicht auf der Strasse waren, unterstützen nach einer aktuellen Umfrage des Forschungsinstituts Harris Interactive 40 Prozent der Bevölkerung die Proteste. Die vergangenen Wochen haben bereits gezeigt, dass sich innerhalb kürzester Zeit enorm viele Menschen hinter der Corona-Kritik vereint haben, noch dazu aus den unterschiedlichsten Teilen der Gesellschaft. Für Becker liegt das zum einen daran, dass Frankreich andere Strukturen der Arbeiterbewegung hat als Deutschland. Und: «Es gibt die jahrhundertelange revolutionäre Erfahrung, dass soziale Bewegungen obsiegen können.»
Es ist also fraglich, ob Macron die losgetretene Kritik an Pandemiemanagement, Regierungsstil und sozialen Verhältnissen im Land wieder wird zügeln können oder ob ihm eine neue Massenprotestbewegung wie 2018 durch die Gelbwesten droht.