Eine Stunde später und zwanzig Kilometer weiter südlich bei Klein Gastrose sind es 25 Männer aus dem Irak. Alle ohne «erforderliche Dokumente für einen legalen Aufenthalt in Deutschland», wie die Bundespolizei festhält. Alle kommen in Gewahrsam.
Für die 44 Männer ist es das Ende einer Odyssee aus dem Nahen Osten über Belarus durch halb Europa. Für Deutschland sind sie Ziffern in einer Statistik, die seit dem Sommer steil nach oben zeigt: Mehr als 4300 Menschen kamen seit August über Belarus unerlaubt in die Bundesrepublik - davon fast 2000 allein im Oktober. Dahinter stecken Wirren der Weltpolitik. Aber das heisst: In Brandenburg, Sachsen und Vorpommern füllen sich die Asylzentren. Es sei nicht dramatisch, aber es sei auch nicht zu Ende, sagt Olaf Jansen, Leiter der Zentralen Ausländerbehörde in Eisenhüttenstadt. «Wir sehen keine Bemühungen, das zu stoppen.»
Gemeint ist damit Alexander Lukaschenko. Der belarussische Machthaber hatte im Mai als Reaktion auf verschärfte Sanktionen der Europäischen Union angekündigt, Migranten nicht mehr an der Weiterreise nach Polen und ins Baltikum zu hindern. Die EU beschuldigt Belarus, die Menschen vielmehr in organisierter Form aus Krisenregionen an die EU-Aussengrenze zu bringen. Kommissionschefin Ursula von der Leyen sprach von einem «hybriden Angriff, um Europa zu destabilisieren». Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nannte es eine «Attacke auf uns alle in der Europäischen Union».
Grenzen dicht? Tausende finden trotzdem einen Weg
Minsk weist das zurück und zeigt stattdessen mit dem Finger auf die EU. Der belarussische Grenzschutz wirft Polen «Pushbacks» vor, also die unrechtmässige Zurückweisung von Menschen vom Boden der EU. Unbestritten ist, dass Polen, Lettland und Litauen versuchen, die EU-Aussengrenze abzuschotten. Sie bauen Hunderte Kilometer Zaun. Polen verhängte im Grenzgebiet zu Belarus den Ausnahmezustand. Helfer oder Journalisten dürfen nicht hinein. Mehrere Migranten starben in dem sumpfigen Landstrich. Pro Asyl spricht von brachialen Methoden, Amnesty International von Rechtsbruch. Doch Tausende finden trotzdem einen Weg.
Hussein und Saravan haben sich vor einem Monat aus dem Irak aufgemacht und stehen nun im kalten Wind auf dem Hof von Jansens Erstaufnahme in Eisenhüttenstadt. Hussein sagt, er habe einen Herzfehler und hoffe auf bessere medizinische Behandlung. Saravan ist nach eigenen Worten ein ehemaliger Drogenfahnder der irakischen Polizei und fühlte sich zu Hause von Kriminellen bedroht. Aber Hussein räumt auch freimütig ein, dass er und seine Freunde vor allem die Armut hinter sich lassen wollen. «Sie wollen ein gutes Leben», sagt der 27-Jährige über die jungen Männer, die um ihn herumstehen, alle in Jeans, Turnschuhen und mit Corona-Masken.
Wie also sind sie hierhergekommen? Über Belarus und Polen, sagt Saravan. Der 35-Jährige spricht selbst kein Englisch, sein Freund Hussein übersetzt. Es ist eine Geschichte in Bruchstücken, aber grob gesagt geht sie so: Die Freunde flogen zu sechst von Istanbul nach Minsk, dort riefen sie einen Kontakt im Irak an, der den Transport zur belarussischen Grenze organisierte. Dann ging es weiter zu Fuss.
Mit dem Kleinbus nach Deutschland
Polnische Grenzer hätten sie gefasst und geschlagen, sagen Hussein und Saravan, doch sie seien entwischt. Zehn Tage hätten sie im Wald herumgelungert, bis sie doch nach Polen reingekommen seien. Mithilfe von GPS-Daten habe ein Kleinbus sie abgeholt und nach Deutschland gebracht. Das Ganze habe pro Person 1010 Euro gekostet.
Den Preis wiederholen beide mehrfach, aber womöglich ist er doch ein Missverständnis. Nabil und Hassan, die ebenfalls über den zugigen Hof zwischen den Unterkünften in Eisenhüttenstadt schlendern, sprechen von 6000 Dollar pro Person. Die beiden stammen nach eigenen Worten aus Syrien und kamen über den Libanon, Dubai, Minsk und Polen nach Deutschland. 15 Tage habe es gedauert, über weite Strecken zu Fuss. Sie sagen, sie wollen zu Hassans Bruder in Bayern.
Einrichtungsleiter Jansen kennt solche Geschichten, aber er sieht in den vergangenen Wochen eine Veränderung. Noch im August seien meist alleinreisende Männer gekommen, oft ausgemergelt, abgerissen und erschöpft. Inzwischen seien auch oft Frauen und Kinder dabei. Jansens Schlussfolgerung: «Es findet eine Professionalisierung statt.» Die Schlepper organisierten sich offenbar immer besser.
«Pakete» buchen im «Reisebüro»
Im Irak und in Syrien machen Informationen die Runde über «Reisebüros», die «Pakete» anbieten - das bestätigt der Deutschen Presse-Agentur ein syrischer Aktivist, der selbst die Route über Belarus erwog. «Wir dachten, es wäre sicher, weil wir fliegen und nicht das Risiko (einer Bootsfahrt) auf See eingehen würden», sagt der Mann aus dem Süden Syriens der dpa am Telefon. Seinen Namen will er nicht nennen.
Er sagt, in der Türkei lebende Syrer hätten ihn auf das Angebot eines «Reisebüros» aufmerksam gemacht. Er und rund 20 weitere junge Männer wollten die Route probieren - Kosten pro Person 6000 bis 7000 US-Dollar. Aber nach Geschichten anderer Syrer, die auf dem Weg über Belarus scheiterten, seien ihm Zweifel gekommen.
Die EU versucht, die Route zu kappen. Anfang Oktober verkündete EU-Kommissarin Ylva Johansson, die Zahl der über Belarus in die EU einreisenden Migranten sei deutlich zurückgegangen. Grund dafür sei, dass keine Flüge mehr von Bagdad nach Minsk gingen. Die irakische Luftfahrtbehörde bestätigte der dpa, Flüge vom Irak nach Belarus und Litauen seien «komplett gestoppt» worden. Iraks Aussenamtssprecher Ahmed al-Sahhaf sagte der dpa, man habe die irakischen «Opfer von Schleusernetzen» im Blick und stimme sich mit den Regierungen in Belarus und Litauen ab.
Flüge nach Minsk gibt es jedoch auch von Istanbul, Taschkent, Dubai und anderswo. Und selbst wenn weniger Migranten bis in die belarussische Hauptstadt kommen sollten: In Deutschland wird die Zahl der Ankünfte nach Jansens Einschätzung auch in den nächsten Monaten nicht abebben. «Nach informellen Informationen sind bereits über 10 000 Menschen in Polen», sagt der Behördenleiter. Soll heissen: auf halbem Weg nach Deutschland.
Beheizte Zelte in der Erstaufnahme
Nach EU-Regeln - dem sogenannten Dublin-Verfahren - wäre zwar in der Regel Polen selbst zuständig für etwaige Asylverfahren dieser Menschen. Deutschland könnte sie zurückschicken in das Land, wo sie zuerst den Boden der EU betraten. In der Praxis sei das aber sinnlos, sagt Jansen: Die Menschen würden in Frankfurt über die Oderbrücke nach Polen gebracht - und kämen fast umgehend zu Fuss zurück.
Der 61-jährige frühere Manager wechselte 2016 in die Betreuung von Flüchtlingen und Migranten. Er spricht besonnen, ärgert sich über überzogene Ängste. «Es ist keine dramatische Lage, aber es ist eine harte Situation», sagt Jansen. Nach Brandenburg kamen nach seinen Worten im Oktober bisher 1400 Menschen über Belarus. «Wir haben bis zum Monatsende mit Sicherheit eine Grössenordnung von 3500», sagt Jansen. 3500 Plätze ist auch die übliche Kapazität der Erstaufnahme. Man habe sie mit beheizten Zelten kurzfristig auf 4600 aufgestockt, wahrscheinlich werde man auf 5000 Plätze hochgehen. Die Menschen würden aber recht schnell umverteilt in andere Bundesländer.
Wie weiter? Das Haus von Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hält sich auffallend bedeckt. «Derzeit werden weitere Massnahmen zur Verhinderung der illegalen Migration nach Deutschland mit unseren Partnern im In- und Ausland abgestimmt», sagt Sprecher Steve Alter. Details könne man noch nicht bekanntgeben. Jansen wünscht sich vor allem Geschlossenheit der in Asylfragen zerstrittenen EU. «Die Europäer sollten Druck machen», sagt der Behördenchef. Druck auf Lukaschenko, aber auch auf die Schlepper. «Denn am Ende des Tages werden die Leute ausgebeutet.»