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Jabar (25): «Einfach tatenlos zuschauen, geht doch nicht»

Ein Afghane erzählt

Jabar (25): «Einfach tatenlos zuschauen, geht doch nicht»

26.08.2021, 09:27 Uhr
· Online seit 26.08.2021, 07:36 Uhr
Während Jabar nach seiner Flucht vor sechs Jahren in der Schweiz Fuss gefasst hat, steckt seine Familie derzeit in Kabul fest. Wie geht der junge Afghane damit um und wie schätzt er die Lage in seiner Heimat ein? Im Gespräch über Angst, Freiheit und Schuldgefühle.
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In dem Moment, als Jabar bewusst geworden ist, wie schnell und dramatisch sich die Situation in Afghanistan zuspitzt, wie die Taliban im Eiltempo Provinz um Provinz einnehmen, fühlte der 25-Jährige vor allem eines: Angst. Angst um seine Schwester und seinen Vater, die in Kabul am Flughafen festsitzen. Angst um Freunde, von denen er teilweise seit Tagen nichts mehr gehört hat. Und Angst um das Leben und die Freiheit so vieler Menschen aus seiner Heimat.

Freiheit - immer wieder kommt Jabar im Gespräch darauf zu sprechen. Frei oder eben nicht frei zu sein beschäftigt ihn, seit ihm die Freiheit genommen wurde. «Vertreter des Militärs standen plötzlich vor meiner Tür und haben mich mitgenommen. Ich konnte nicht einmal meine Sachen packen.» Damals war Jabar 17 Jahre alt und hätte in den Syrienkrieg ziehen müssen. Ihm war bewusst, dass das sein Todesurteil bedeutet hätte. Während einem nächtlichen Schussgefecht ist er deshalb aus dem Camp abgehauen, in die Türkei geflüchtet und dann weiter nach Griechenland, bis er irgendwann in der Schweiz gelandet ist. Die ersten zwei Wochen hier konnte er kaum schlafen. Nicht aber aus Angst vor der Ungewissheit, dem Alleinsein oder der fremden Sprache und Kultur. Sondern aus Freude und Aufregung, endlich frei zu sein.

Es ist auch die Freiheit der Menschen in Afghanistan, um die sich Jabar grosse Sorgen macht. «20 Jahre lang durften Frauen zur Schule oder arbeiten gehen, man durfte Musik hören und Tanzen war erlaubt. Und jetzt wird den Menschen von einem Tag auf den anderen all diese Freiheit genommen.» Jabar denkt dabei vor allem an die jungen Leute, jene, welche die Zeit vor 2001, als die Taliban schon einmal über grosse Teile des Landes regiert haben, nicht kennen. Dass sich die Taliban seither modernisiert haben, ihre Versprechen von Amnestie, Frauenrechten und Freiheit einhalten werden, daran glaubt Jabar nicht.

Wie die Lage vor Ort momentan aber tatsächlich ist, kann Jabar nicht sagen. «Ich weiss nur, dass es grausam und unübersichtlich ist.» Viel mehr hört er nicht von seinen Angehörigen aus Kabul. Einerseits liegt das daran, dass das Funknetz seit Wochen überlastet ist, der Empfang teilweise mehrere Tage ausfällt. Andererseits sei derzeit alles so chaotisch, dass nicht mal die Leute vor Ort wirklich verstünden, was da gerade in ihrem Land passiert.

Das quälende Gefühl der Schuld

Jabar hat es geschafft. Er konnte in der Schweiz Fuss fassen, arbeitet im Moment auf dem Bau, lebt in einer WG und möchte bald die Berufsmatura nachholen, um Politik und Gesellschaft zu studieren. Und trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – wird er seit Wochen ein quälendes Gefühl nicht mehr los: Schuld. Er kommt nur schwer mit dem Gedanken klar, hier in Sicherheit zu sein und eine Perspektive zu haben, während sein Land am Abgrund steht. «Ich weiss, dass ich im Moment vor Ort nicht helfen kann. Aber so weit weg zu sein und einfach tatenlos zuschauen zu müssen, das geht doch auch nicht.»

Jabar überlegt zwar nicht ernsthaft, in absehbarer Zukunft zurück nach Afghanistan zu gehen, das Gefühl der Schuld aber bleibt. Obwohl er grösstenteils im Iran aufgewachsen ist - seine Eltern sind Afghanen, aber schon vor Jabars Geburt in den Iran geflohen - fühlt er sich Afghanistan gegenüber verpflichtet. Verpflichtet zu helfen, auch wenn er nicht weiss, wie. Dass die Schweiz zurückhaltend ist, Flüchtlinge aufzunehmen, kann er «schon irgendwie verstehen», wie er sagt. «Es ist doch normal, dass man das, was man hat, behalten und schützen will. Die Leute, die dagegen sind, jetzt viele Flüchtlinge aus Afghanistan aufzunehmen, haben vielleicht einfach selber Angst.» Trotzdem ist Jabar der Meinung, dass die Schweiz und andere westliche Länder dazu verpflichtet sind, jetzt den Menschen ein humanitäres Visum zu geben, die in akuter Lebensgefahr sind.

Trotz Angst, Ungewissheit und Schuldgefühlen bleibt Hoffnung, an die sich Jabar im Moment klammert. «Ich hatte immer Hoffnung und tief in mir das Gefühl, dass schon alles gut kommt. Und das hat mich bis hierher gebracht.» Ihm ist aber auch bewusst, dass Hoffnung allein nicht reicht. Irgendwann möchte er nach Afghanistan zurück und helfen, das Land wieder aufzubauen.

veröffentlicht: 26. August 2021 07:36
aktualisiert: 26. August 2021 09:27
Quelle: ArgoviaToday

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