Oppositionelle sprachen am Sonntag von einem beispiellosen Eingriff in den internationalen Luftraum. Auch der regierungskritische Nachrichtenkanal Nexta (Gesprochen Nechta) bestätigte die Festnahme seines Mitbegründers und früheren Redakteurs, der an Bord einer Ryanair-Maschine gewesen sei. Protassewitsch sei schon in Athen vor dem Einstieg ins Flugzeug verfolgt worden, hiess es. Lukaschenko habe mit einem Verstoss gegen alle Gesetze ein Flugzeug «gekapert», kritisierte der Kanal. Nexta forderte Ryanair auf, den Vorfall aufzuklären.
Die Fluglinie bestätigte, dass einer ihrer Flieger auf dem Weg von Athen in die litauische Hauptstadt Vilnius nach Minsk umgeleitet worden sei. Die Besatzung des Fluges sei von belarussischer Seite über eine mögliche Sicherheitsbedrohung an Bord in Kenntnis gesetzt und angewiesen worden, zum nächstgelegenen Flughafen in Minsk zu fliegen, teilte die Airline am Sonntag auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur mit.
Die Maschine sei sicher gelandet, und die Passagiere seien von Bord gegangen, während die lokalen Behörden Sicherheitsüberprüfungen erledigt hätten. Dabei sei nichts Ungewöhnliches gefunden worden. Die Behörden hätten daraufhin genehmigt, dass das Flugzeug nach schätzungsweise fünf Stunden am Boden wieder zusammen mit Passagieren und Crew starten könne. Der Abflug sollte nach am Sonntagabend erfolgen. Zur Festnahme des Oppositionsaktivisten gab es von Ryanair keine Angaben.
Die Behörden in Belarus stufen Nexta als extremistisch ein. Der Kanal hatte im vergangenen Jahr nach der umstrittenen Präsidentenwahl immer wieder zu Massenprotesten gegen Lukaschenko aufgerufen. Der Blogger Protassewitsch gehört zu den vielen international zur Fahndung ausgeschriebenen Oppositionellen, denen Lukaschenko persönlich den Kampf angesagt hat.
Die ebenfalls im Exil in der EU lebende Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja verurteilte die «Geheimdienstoperation». Ihre Mitarbeiter meinten, dass die Aktion auch ihr gegolten haben könnte; Tichanowskaja habe die Route von Athen nach Vilnius auch schon genommen. Sie ist ebenfalls zur Fahndung ausgeschrieben. Viele Menschen in Belarus halten sie für die Siegerin der Präsidentenwahl vom 9. August 2020.
Der Geheimdienst KGB hatte den Journalisten Protassewitsch auf eine Liste mit Menschen setzen lassen, denen die Beteiligung an terroristischen Handlungen vorgeworfen werde, wie das Portal tut.by bei Telegram berichtete. Nach Angaben der Staatsagentur Belta hatte Lukaschenko nach dem Alarm über einen Sprengsatz an Bord der Maschine selbst das Kommando gegeben, das Flugzeug in Minsk landen zu lassen.
Zur Begleitung der Ryanair-Maschine sei auch ein Kampfjet vom Typ MiG-29 aufgestiegen, bestätigte der Flughafen. Flughafensprecher teilten in Staatsmedien mit, die Piloten an Bord der Maschine hätten um die Landeerlaubnis gebeten. Später habe sich die Information über die mutmassliche Bombe als Fehlalarm herausgestellt.
Das Auswärtige Amt in Berlin forderte eine Erklärung zu der ausserplanmässigen Landung eines Passagierflugzeugs in Minsk. Staatssekretär Miguel Berger schrieb am Sonntag auf Twitter, es sei eine sofortige Erklärung der Regierung von Belarus zur Umleitung eines Ryanair-Fluges innerhalb der EU nach Minsk und der angeblichen Festnahme eines Journalisten nötig.
Die EU-Spitzen verurteilten die Umleitung der Maschine. «Es ist absolut inakzeptabel, den Ryanair-Flug von Athen nach Vilnius zu zwingen, in Minsk zu landen», schrieb EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen am Sonntag auf Twitter. Verletzungen der internationalen Luftverkehrsregeln müssten Konsequenzen haben. EU-Ratschef Charles Michel schrieb, es müsse Untersuchungen der Internationalen Zivilluftfahrtorganisation geben.
Offen liess er, ob und in welcher Form das Thema beim EU-Sondergipfel am Montagabend diskutiert werden könne. Polens Ministerpräsident Mateusz Morawiecki hatte kurz zuvor getwittert, er habe Michel gebeten, dass bei dem Gipfel über unverzügliche Sanktionen gegen das «Regime» von Lukaschenko beraten werden solle. Schon jetzt sind zahlreiche Sanktionen in Kraft. Die EU erkennt Lukaschenko nicht als Präsident an. Auch Griechenlands Regierungschef Kyriakos Mitsotakis forderte via Twitter, dass der Vorfall Thema beim EU-Sondergipfel wird. Das griechische Aussenministerium sprach von «staatlicher Luftpiraterie».
Der Pole Morawiecki schrieb, die «Entführung eines Zivilflugzeugs» sei ein «beispielloser Akt von Staatsterrorismus» und könne nicht ungestraft bleiben. Litauens Präsident Gitanas Nauseda forderte die sofortige Freilassung des Aktivisten Protassewitsch. «Das ist ein nie dagewesener Vorfall (...) Das Regime von Belarus steht hinter dieser abscheulichen Aktion», schrieb er auf Twitter.