Knapp, knapper, Brasilien: Mit 50,9 Prozent der Stimmen ist der Linke Lula da Silva in der Nacht auf Montag haarscharf zum neuen Staatschef Brasiliens gewählt worden. Zum ersten Mal überhaupt wurde im grössten Land Lateinamerikas damit ein demokratisch gewählter Präsident zum insgesamt dritten Mal gewählt. Lulas Wahlsieg bringt also grosse Brisanz mit sich – auch, weil er wegen Korruption schon verurteilt worden war und im Gefängnis sass.
So ist es im tief gespaltenen Land nach der Auszählung wenig überraschend zu ersten Protesten gekommen. Viele Anhänger von Verlierer Jair Bolsonaro sehen ihren rechtskonservativen Staatschef nämlich als Verteidiger der traditionellen Familienwerte und als Bollwerk gegen den angeblich drohenden Kommunismus. Davor hatten die «Bolsonaristas», mit Verweis auf das schwer kriselnde, von einer sozialistischen Regierung geführte Nachbarland Venezuela, eindringlich gewarnt.
Polizei soll Lula-Anhänger am Wählen gehindert haben
Lastwagenfahrer etwa sind in mehreren Bundesstaaten gegen die neue Präsidentschaft auf die Strasse gegangen. Auf Videos ist zu sehen, wie sie mit brennenden Reifen diverse Autobahnen blockieren. Zudem wurde ein 27-jähriger Lula-Anhänger während einer Feier in einem Lokal erschossen worden. Ob es sich dabei um eine politisch motivierte Tat handelte, ist noch unklar.
Apropos Blockieren: Aus diversen Städten, vor allem im Nordosten des Landes, mehren sich Berichte, dass die Militärpolizei, die derzeit noch unter Bolsonaros Führung steht, Lula-Anhänger daran hindern wollte, wählen zu gehen und ihre Stimme für den Sozialisten abzugeben. «Deixem o nordeste votar», zu deutsch «Lasst den Nordosten wählen» – dieser Satz ging sogleich viral:
CANALHAS!!
— Brasil com Manzano (@VamosPeloBrasil) October 30, 2022
Estão cometendo o MAIOR CRIME ELEITORAL da história desse país, passaram de todos os limites. O bolsonarismo precisa ser extirpado📢🚨
DEIXEM O NORDESTE VOTARpic.twitter.com/YG0CSxZ3Xt
Bolsonaro-Anhänger könnten Eigendynamik erzeugen
Nun, da Klarheit herrscht, dass das Unterfangen der Polizei nichts nützen sollte, wird umso mehr mit grosser Spannung erwartet, was der Verlierer selbst sagt. Bolsonaro hält sich derzeit noch bedeckt, eine Stellungnahme ist bisher ausgeblieben. Und mit jeder Stunde, die verstreicht, wird das linke Gewinnerlager misstrauischer. Denn Bolsonaro hatte im Vorfeld mehrfach angedeutet, dass er eine Wahlniederlage nicht akzeptieren würde.
Plant er im Geheimen einen Coup? Oder muss er einfach erstmal die Niederlage verdauen? Lässt er das Wahlresultat auf juristischem Wege anfechten? Darüber rätselt Brasilien aktuell. Seine fanatischen Anhänger, von denen am Sonntagabend viele bereits auf die Strasse gingen und protestierten, dürften ebenfalls eine gewichtige Rolle spielen – die Sorge, dass sie sich nicht zurückhalten werden, auch wenn sich Bolsonaro selbst als fairer Verlierer zeigt, ist nicht unberechtigt.
Einigung des Volks wird sehr schwierig
Immerhin: Diverse Verbündete Bolsonaros, Parteikollegen oder Senatoren, haben Lulas Wahlsieg anerkannt. Dies haben des Weiteren auch diverse europäische Länder – mit gutem Grund. Viele Politiker sehen den Wahlsieg Lulas als Chance, um die Beziehungen zu diesem grossen und wichtigen Handelspartner wieder aufleben zu lassen. Der französische Präsident Emmanuel Macron etwa, aber auch US-Präsident Joe Biden oder der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz gratulierten Lula bereits.
Auch die Umweltorganisation Greenpeace hat das Wahlergebnis begrüsst, wie sie auf Twitter vermeldet:
Luiz Inácio Lula da Silva foi eleito o novo presidente da República e o Greenpeace Brasil vem a público saudar o resultado das urnas. Reforçamos a importância do processo democrático e o respeito absoluto à escolha da maioria da população brasileira. #Eleições2022 pic.twitter.com/mgvMaUlXoO
— Greenpeace Brasil (@GreenpeaceBR) October 30, 2022
Als riesiger Kohlenstoffspeicher spielt das Amazonasgebiet eine wichtige Rolle im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel. Unter Jair Bolsonaro hatte die Abholzung des Regenwalds horrende Ausmasse genommen. Lulas Aufgabe wird diesbezüglich nicht einfacher werden – Bolsonaro hat im Kongress nach wie vor die Mehrheit der Sitze.
Dennoch erhoffen sich Klimaaktivisten nun, dass es unter Lula wieder aufwärts geht und die Rodung reduziert werden kann. Brasilien selbst, das haben die letzten Wochen während des Wahlkampfs bewiesen, muss jetzt die tiefe Spaltung, die unter den Menschen vorherrscht, überwinden. Lula hatte betont, auf die Verlierer vom Sonntag zuzugehen und das Volk einen zu wollen. Einfach wird das nicht. Nicht bei 49,1 Prozent Stimmen für Bolsonaro.