Debatte über EU-Beitritt
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat angesichts von mehr als 100 Tagen tapferem Kampf gegen die russische Invasion mit Nachdruck den Status als EU-Beitrittskandidat verlangt. «Ich meine, das wird nicht nur eine Entscheidung für die Ukraine, sondern für das gesamte europäische Projekt sein», sagte das Staatsoberhaupt in seiner täglichen Videobotschaft am Montag. Das werde auch darüber entscheiden, ob die EU eine Zukunft habe oder nicht, meinte Selenskyj.
Die EU-Kommission will noch im Juni entscheiden, wie es mit den EU-Ambitionen des von Russland angegriffenen Landes weitergeht. Die Bundesregierung hat sich zu dieser Frage noch nicht positioniert. Kanzler Olaf Scholz (SPD) hat aber klargemacht, dass es keine Abkürzungen für die Ukraine auf dem Weg in die EU geben dürfe. Die Ukraine, die vor allem auch mit massiver Korruption zu tun hat, sieht ihren Kampf gegen Russland als ausreichende Qualifikation.
Selenskyj hat einen Sondergesandten nach Berlin geschickt, um Gespräche mit der Bundesregierung über eine EU-Beitrittsperspektive zu führen. Der Minister für regionale Entwicklung, Oleksij Tschernyschow, will am Dienstag und Mittwoch unter anderen Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt (SPD) und mehrere Minister treffen. «Die Europäische Union sollte die Ukraine umarmen», sagte Tschernyschow der dpa vorab. Er betonte aber auch, dass sein Land nicht bevorzugt behandelt werden wolle. «Wir erwarten keinen Beitritt durch die Hintertür und auch keine Überholspur für die Ukraine.» Deutschland spiele als wirtschaftsstärkstes und bevölkerungsreichstes Land der EU eine «entscheidende Rolle» in der Beitrittsfrage.
Wo wird aktuell gekämpft?
Derweil gehen die Kämpfe in der Ukraine weiter. «Am 103. Tag hält der ukrainische Donbass kräftig stand», sagte Selenskyj im Hinblick auf die Situation im Osten des Landes. Es werde zudem alles dafür getan, dass die Front in den Gebieten Saporischschja und Mykolajiw standhalte. Schwere Kämpfe gebe es weiter um Sjewjerodonezk, Lyssytschansk, Slowjansk, Bachmut, Swjatohirsk, Awdijiwka, Kurachowe sowie in den Gebieten Luhansk und Donezk. Dabei müssen die Streitkräfte schwere Verluste hinnehmen.
Das russische Militär und die von Moskau unterstützten Separatisten schliessen die Einnahme der ukrainischen Stadt Swjatohirsk (Swjatogorsk) mit ihrem historischen Kloster nach eigenen Angaben nun ab. «Swjatogorsk ist praktisch befreit», sagte der Anführer der Separatistenregion Donezk, Denis Puschilin, im russischen Staatsfernsehen. Dort liegt das zuletzt auch beschossene Erzkloster Mariä-Entschlafung, das zu den wichtigsten Heiligtümern der russischen Orthodoxie gehört.
Der Moskauer Patriarch Kirill, der den Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützt, steht seit langem im Ruf, die alten religiösen Stätten in der Ukraine für die russisch-orthodoxe Kirche unter seinem Einfluss halten zu wollen. Der Sprecher des russischen Verteidigungsministeriums, Igor Konaschenkow, hatte zuvor erklärt, dass die Eroberung der Stadt in den letzten Zügen sei. Die letzten Soldaten der ukrainischen Streitkräfte hätten die Militärtechnik und Waffen zurückgelassen und seien selbst geflüchtet. Nach Darstellung Konaschenkows überquerten rund 80 ukrainische Soldaten den Fluss der Stadt, die russische Seite habe sie fliehen lassen und nicht das Feuer eröffnet, sagte er.
Eine Bestätigung von ukrainischer Seite, dass Swjatohirsk aufgegeben sei, gab es zunächst nicht. Allerdings hatte der ukrainische Generalstab am Montagmorgen über schwere Kämpfe im Donezker Gebiet um die Stadt berichtet. Die Ukraine fordert seit Wochen vom Westen die Lieferung schwerer Waffen, um die russischen Streitkräfte nicht nur aufzuhalten und zurückzudrängen, sondern auch, um besetzte Orte zu befreien.
Debatte über Panzerlieferungen aus Spanien
Spanien etwa will Kampfpanzer deutscher Bauart an die Ukraine liefern. Die Union im Bundestag warnte die Bundesregierung davor, Spanien daran zu hindern. «Wenn Spanien Leopard 2 liefern will, muss die Bundesregierung das schnell ermöglichen», verlangte der stellvertretende CDU/CSU-Fraktionschef Johann Wadephul (CDU) in der «Augsburger Allgemeinen» (Dienstag). «Deutschland lässt die Ukraine jeden Tag, an dem dort keine schweren Waffen ankommen, im Stich.» Ähnlich äusserte sich der CDU-Aussenpolitiker Roderich Kiesewetter in der «Süddeutschen Zeitung» (Dienstag): «Ich erwarte, dass die Bundesregierung rasch, möglichst proaktiv, die dafür notwendige Ausfuhrgenehmigung erteilt.»
Die gewöhnlich sehr gut informierte spanische Zeitung «El País» hatte unter Berufung auf Quellen im Verteidigungsministerium berichtet, Spanien bereite die Lieferung von etwa 40 Kampfpanzern des Typs Leopard 2 A4 und von bodengestützten Luftabwehrraketen vor. Ministerin Margarita Robles wollte dies am Montag aber weder bestätigen noch dementieren. Dies sei ein «extrem delikates Thema» und bedürfe «grösster Diskretion».
Massive Kämpfe im Donbass
Der ukrainische Armeesprecher Olexander Motusjanyk berichtete von intensiven Kämpfen «praktisch entlang der gesamten Frontlinie in den Gebieten Luhansk und Donezk». Die russische Luftwaffe habe 39 Einsätze für Luftschläge auch ausserhalb der Ostukraine geflogen. Am bedrohlichsten sei die Situation jedoch im Gebiet Saporischschja, in dem die russische Armee die Gebietshauptstadt bedrohe, hiess es. Präsident Selenskyj hatte die Region am Sonntag besucht und sich auch unmittelbar an der Front aufgehalten.
Was am Dienstag wichtig wird
Die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) traf am Montagnachmittag zu einem zweitägigen Besuch in der ukrainischen Hafenstadt Odessa ein. Sie reiste auf Einladung ihres ukrainischen Amtskollegen ans Schwarze Meer. «Wir wollen zeigen, dass wir da sind», sagte die Grünen-Politikerin zum Auftakt der Reise, «wir wollen zeigen, wie die Kultur angegriffen wird», meinte sie vor dem Haupttag der Reise am Dienstag. Humanitäre Hilfsangebote kämen in den Debatten noch zu selten vor.
Erstmals seit Beginn des Ukraine-Kriegs besucht Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Dienstag mit Litauen ein Nato-Land, das an Russland grenzt und sich durch die Atommacht besonders stark bedroht fühlt. In der Hauptstadt Vilnius wird er neben Nauseda die Regierungschefs aller drei baltischen Staaten treffen – neben Litauen gehören noch Lettland und Estland dazu. Anschliessend besucht der Kanzler die Bundeswehrsoldaten, die in Litauen zur Sicherung der Nato-Ostflanke stationiert sind.
(sda/dpa/jaw)