Rache und Verzweiflung

Warum Russland nun wieder Raketen auf Kiew schiesst

10.10.2022, 12:36 Uhr
· Online seit 10.10.2022, 12:31 Uhr
In verschiedenen Städten der Ukraine sind am Montag Raketen eingeschlagen und haben zivile Infrastruktur getroffen. Auch in der Hauptstadt Kiew sind Geschosse explodiert. Der langjährige Russland-Korrespondent Peter Gysling erklärt, warum Russland nun wieder auf Bombardements weit von der Front entfernt setzt.

Quelle: CH Media Video Unit / Melissa Schumacher / Video vom 10.10.22

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Vermutlich verfolge Russland mit den Raketenangriffen verschiedene Ziele, sagt Peter Gysling. Zum einen gehe es um Rache für den Anschlag auf die Krim-Brücke vom vergangenen Samstag. Zwar ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht geklärt, wer für die Explosion auf der Brücke zwischen Russland und der Krim verantwortlich ist, aber der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew habe Vergeltung für die Tat angekündigt.

Auch Kremlchef Wladimir Putin hat die Raketenangriffe Moskaus gegen zahlreiche ukrainische Städte als Reaktion auf die «Terroranschläge» gegen russisches Gebiet bezeichnet. Zugleich drohte der russische Präsident Kiew am Montag bei einer Sicherheitsratssitzung mit einer noch härteren «Antwort», sollten die «ukrainischen Angriffe» fortgesetzt werden.

Geheimdienst und Zivilbevölkerung im Visier

Zum anderen könnte Russland laut Gysling mit den Angriffen auch das Ziel verfolgen, den ukrainischen Geheimdienst auszuschalten. Dieser habe sein Hauptquartier im Zentrum der Hauptstadt Kiew. Ob dieses Ziel erreicht wurde, sei fraglich.

Und schliesslich habe Russland auch die Absicht, die ukrainische Zivilbevölkerung einzuschüchtern. Viele angegriffene Orte liegen im Westen des Landes, Hunderte von Kilometern von der Kriegsfront entfernt. «Dort sind Angriffe weder militärisch noch strategisch irgendwie sinnvoll», sagt Gysling. «Da werden wahllos Wohngebiete beschossen und Städte niedergewalzt. Für mich ist das völlig unverständlich.»

«Die Situation ist katastrophal»

Die russischen Angriffe seien nicht zuletzt ein Ausdruck der Verzweiflung auf der russischen Seite. Solche Raketenangriffe würden von der Uno-Charta verboten, so Gysling weiter. Russland greife zivile Einrichtungen im Nachbarland an, während die Ukraine solche Schäden bei ihrer militärischen Gegenwehr im eigenen Land zu vermeiden versuche. «Die Situation ist katastrophal», sagt der Russland-Experte.

Russlands Präsident Putin steht nach Gyslings Einschätzung mit dem Rücken zur Wand. Dass er dabei auch zu extremen Mitteln wie Atomwaffen greifen könnte, bezweifelt er. Das hätte schwerwiegende Reaktionen der Nato-Staaten zur Folge. Aber Putin werde nun versuchen, den Konflikt mit konventionellen Mitteln eskalieren zu lassen und wieder nach Kiew zu tragen, wie es bereits zu Kriegsbeginn im Februar geschehen war.

Ob Russland damit seine Kriegsziele erreicht, sei schwer zu beurteilen. Militärisch sei die Ukraine weiterhin in der Lage, dem russischen Angriff standzuhalten. Personell seien die Herausforderungen grösser. Es sei nicht klar, wie hoch die Verluste der ukrainischen Armee seit Beginn des Konflikts waren und wie viele Soldaten ihr noch zur Verfügung stehen. Das russische Potenzial sei hier wohl grösser.

(osc)

veröffentlicht: 10. Oktober 2022 12:31
aktualisiert: 10. Oktober 2022 12:36
Quelle: Today-Zentralredaktion

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