Ein Jahr an der Macht

Was haben die Taliban Afghanistan gebracht und was nicht?

· Online seit 15.08.2022, 14:40 Uhr
Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan hat sich das Leben für viele Menschen sehr verändert. Von einem Tag auf den anderen sind viele Errungenschaften zunichte gemacht worden. Wie ist es dazu gekommen und wie ist die derzeitige Situation in Afghanistan? Eine Übersicht.
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Vor einem Jahr haben westliche Truppen durch ihren übereilten und auch unvorbereiteten Abzug aus Afghanistan der Taliban die Macht im Land überlassen. Das hat das Leben vieler Menschen sehr verändert. Wir haben eine Übersicht der Ereignisse von vor einem Jahr, wer nun in Afghanistan regiert und wie die aktuelle Lage vor Ort ist.

Wie ist es zur Machtübernahme gekommen?

Am 29. April 2021 beginnen die USA den Abzug ihrer Truppen aus Afghanistan. Dazu verpflichteten sie sich im Doha-Abkommen 2020 mit den Taliban. Danach folgt die unerwartet schnelle Gebietseroberung der Taliban, die auf die grösseren Provinzhauptstädten vorrücken. Die afghanischen Regierungstruppen ziehen sich im Land meist kampflos und dementsprechend demoralisiert zurück. In der zweiten Augustwoche 2021 haben die Taliban die wichtigen Städte Kunduz, Herat, Kandahar, Mazar-e Sharif und Jalalabad recht schnell und meist ohne nennenswerten Widerstand eingenommen.

Am 14. August sind die Taliban nur noch wenige Kilometer von Kabul entfernt. Sowohl der amerikanische Aussenminister Antony Blinken als auch der frühere afghanische Präsident Hamid Karzai versuchen unter anderem eine geordnete Machtübergabe an die Islamisten zu vermitteln. Dabei stimmen die Taliban zu, Kabul vorerst nicht einzunehmen und sich mit dem Präsidenten Ashraf Ghani zu Verhandlungen zu treffen. Allerdings flieht dieser einen Tag später, am 15. August 2021, heimlich mit seiner Frau und seinen beiden engsten Beratern im Helikopter nach Usbekistan. Darauf machen sich viele Regierungsmitarbeiter und Ortskräfte der westlichen Verbündeten aus Angst vor Racheaktionen mit ihren Familien auf zum Kabuler Flughafen.

Wie ging es weiter? 

Dass der Präsident aus Afghanistan geflüchtet ist, verbreitet sich über Social Media wie ein Lauffeuer. Die Taliban nutzen die Gunst der Stunde und besetzen die Hauptstadt in kürzester Zeit. Sie dringen in den Präsidentenpalast ein und hissen dort die weiss-schwarze Fahne des Islamischen Emirats. In der Hoffnung doch noch aus dem Land zu kommen, strömen die Menschen zum Flughafen. Westliche Truppen bemühen sich verzweifelt darum, die im Land verbliebenen ausländischen Diplomaten und Helfer zu evakuieren. Dazu soll auch der Truppenabzug beschleunigt werden. Doch vor dem Flughafen herrscht Chaos, zahlreiche Menschen kommen im Gedränge ums Leben. Einige schaffen es doch aufs Rollfeld und klammern sich an startende Maschinen. Dabei sterben drei Menschen.

Die Wut auf den geflohenen Staatschef ist gross. Er wird von den Afghanen als Verräter gesehen. Ein amerikanischer Bericht stellt später fest, dass Ashraf Ghani wohl Geld mitgenommen hat – zwischen einer halben und einer Million Dollar. Bis heute befindet sich der ehemalige Staatschef in den Vereinigten Arabischen Emiraten.

Die Taliban übernehmen die Kontrolle über die Zufahrtsstrassen zum Kabuler Flughafen. Der Luftraum über Afghanistan wird jedoch für Zivilflugzeuge gesperrt. Die US-Streitkräfte und die europäischen Verbündete fliegen ihre Leute vor allem nach Doha und Dubai. Die deutsche Bundeswehr hingegen errichtet eine Luftbrücke nach Taschkent. Auch ehemalige Ortskräfte werden evakuiert, doch die Mehrheit der Afghanen bleibt vor dem Kabuler Flughafen zurück.

Wer regiert jetzt in Afghanistan? 

Die Taliban stellt am 7. September 2021 ihr Regierungsteam vor. Die neuen Minister sind allesamt ranghohe Taliban. Die liberalen Kräfte aus den Taliban-Reihen sind kaltgestellt worden. Die Hardliner dominieren die politischen Ämter und den Sicherheitsapparat. Offiziell nur als Übergangsregierung vorgestellt, lenken bis anhin 33 bärtige Männer mit Turban das Geschehen,. Keine einzige Frau ist vertreten. Einige der neuen Minister stehen allerdings auf den Terrorlisten der USA und der Uno – viele von ihnen sind nach Jahren im Untergrund erstmals wieder aufgetaucht. Regierungschef ist Mullah Hassan Akhund. Als langjähriger Vorsitzender des Führungsrats, der sogenannten Rahbari-Shura, genoss er in den eigenen Reihen grossen Einfluss. Über ihn und die Minister wacht der «oberste religiöse Führer», der derzeitige Taliban-Chef Mullah Haibatullah Akhundzada.

Inzwischen ist die Regierung der Taliban so gefestigt wie wenige Regierungen in Afghanistan zuvor, so die «Tagesschau». Dass sie den westlichen Attacken und den Widerstand standgehalten hätten, sei für die Taliban die Legitimation, um nun wieder am Hindukusch zu regieren. Und das dürfte bis auf Weiteres auch so bleiben. Die Taliban seien heute stärker den je, denn sie würden die mächtigste afghanische Regierung seit 40 Jahren stellen, heisst es weiter.

Wie ist die aktuelle Situation in Afghanistan? 

Laut einem Amnesty-Bericht haben die Taliban entgegen ihrer Ankündigungen nach ihrer Machtübernahme schwerste Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan begangen. Die radikalislamische Regierung verfolge Minderheiten, schlage friedliche Proteste gewaltsam nieder und unterdrücke Frauen. Verbrechen wie Folter, Morde aus Rache und Vertreibungen von Minderheiten blieben oftmals straflos, heisst es in dem Bericht. Zudem werden wichtige Errungenschaften der letzten 20 Jahre zunichte gemacht. Darunter fallen insbesondere die Rechte von Mädchen und Frauen. Diese erfahren in nahezu jedem Lebensbereich systematisch Diskriminierung.

Darüber hinaus haben Recherchen von Amnesty gezeigt, dass die Sicherheitskräfte der Taliban  exzessiv Gewalt anwenden, um das Verbot friedlicher Proteste durchzusetzen. Dass Menschenrechtsverteidiger und Aktivisten schikaniert, bedroht, inhaftiert und getötet würden, stehe an der Tagesordnung. Auch gegen die Pressefreiheit sei die Taliban vorgegangen. Allein im letzten Jahr sollen bis zu 80 Journalistinnen und Journalisten festgenommen und gefoltert worden sein, weil sie Inhalte veröffentlicht haben sollen, die «dem Islam widersprechen» oder «nationale Persönlichkeiten» beleidigt haben sollen.

Allerdings ist nicht die gesamte afghanische Bevölkerung gegen die Regierung der Taliban. Diese bezeichnen die Wiederherstellung der Sicherheit im Land als oberste Priorität. Sie halten sich die Beendigung des 20-jährigen Krieges in Afghanistan zugute. Teile der Bevölkerung sehen das genauso.

Was hat die Taliban-Regierung bislang erreicht? 

Die Regierung kann sowohl innenpolitisch als auch aussenpolitisch erste Erfolge aufweisen. So soll ihnen gelungen sein, die Korruption im Land entscheidend einzudämmen, berichten Experten in der ARD-Tagesschau. Damit haben sich auch die Staatseinnahmen erhöht. Die vergleichsweise friedliche Gesamtsituation im Land sorgt auch dafür, dass der Handel so langsam wieder in Fahrt kommt. Allerdings ist die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung weiterhin von Armut und Hunger bedroht.

Auch aussenpolitisch werden neue Banden geknüpft. So sollen vor allem China, Russland und Pakistan gesteigertes Interesse an den Rohstoffvorkommen des Lands aufweisen. Pakistan importiert unterdessen reichlich afghanische Kohle. Dazu soll besonders das Regime in Kabul grosses Interesse an einer engen Zusammenarbeit mit China haben. Noch aber agieren auch die regionalen Investoren abwartend, bislang zeigte sich die Politik der Taliban doch noch zu unberechenbar, wie es weiter heisst.

(sib)

veröffentlicht: 15. August 2022 14:40
aktualisiert: 15. August 2022 14:40
Quelle: Today-Zentralredaktion

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