Seit Mittwoch gehen Bilder aus einem kleinen Dorf im Rheinland um die Welt: Aktivisten und Aktivistinnen, die von Polizisten aus der Siedlung getragen werden, andere, die unter der Erde harren, Molotowcocktails, die angeblich gegen Beamte eingesetzt werden sollen.
Die Räumung von Lützerath und dessen Symbolik gehen weit über die deutsche Landesgrenze hinaus. Warum hat ein längst verlassenes Dorf im Rheinland so grosse Bedeutung? Wer steht hinter den Protesten und warum leisten die letzten Bewohnerinnen und Bewohner derart Widerstand? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Was ist die Geschichte hinter Lützerath?
Lützerath ist ein Ortsteil der 43'000-Einwohner-Stadt Erkelenz in Nordrhein-Westfalen unweit der Millionenstadt Köln. Die Siedlung liegt unmittelbar an der Grenze zum Braunkohletagebau Garzweiler. Dort werden auf einer Fläche von insgesamt 31 Quadratkilometern pro Jahr bis zu 30 Millionen Tonnen Braunkohle gefördert – und das seit über 100 Jahren. Weil die ursprüngliche Abbaufläche grösstenteils erschöpft ist, wird das Abbaugebiet vom Energiekonzern RWE stetig ausgeweitet. Die Ausweitung des Kohleabbaus in der Region und die schlussendlich bevorstehende Räumung des Weilers sind auch der Grund, weshalb die Einwohnerzahl Lützeraths seit Jahren zurückgeht: Im Jahr 1970 lebten 105 Menschen in Lützerath; 2010 waren es noch 55, im Juni letzten Jahres waren es offiziell gerade noch acht Personen.
Warum soll Lützerath abgerissen werden?
Unter Lützerath liegt eine grosse Menge Braunkohle, die vom Energieversorgungskonzern RWE abgebaut und zu Energie umgewandelt werden soll. Die amtliche Bewilligung für eine Vergrösserung der Abbaufläche wurde bereits 1997 nach jahrelangem Hin und Her im Parlament erteilt. 2021 wurde der Beschluss überarbeitet und ein neuer Deal zwischen dem Energiekonzern und der Bundesregierung ausgearbeitet: Der RWE darf folglich die Kohle unter Lützerath ausbeuten — im Gegenzug wird der Kohleausstieg in Nordrhein-Westfalen um acht Jahre auf 2030 vorgezogen. Auch die Grünen haben dieser Vereinbarung zugestimmt.
Lützerath ist nicht die erste Ortschaft, die dem wachsenden Tagebau zum Opfer fällt. Im Laufe der Jahre wurden insgesamt 14 Siedlungen in der Region zugunsten der Kohleförderung abgerissen. Dabei haben mehr als 10'000 Menschen ihre Heimat verloren.
Warum wird Lützerath besetzt und was wollen die Protestierenden?
Den meisten Aktivistinnen und Aktivisten geht es weniger um das Dorf an sich. Stattdessen fordern sie den sofortigen Kohle-Ausstieg. Und dieses Argument hat ihre Berechtigung: Braunkohle gilt als der klimaschädlichste Energieträger. Bei der Kohleförderung werden ganze Landstriche verwüstet, das Grundwasser für Jahrhunderte geschädigt, Siedlungen zerstört. Zudem ist Braunkohle ein fossiler Energieträger und enthält viel Kohlenstoff, der bei der Verbrennung in Form von CO₂ freigesetzt wird.
Jedoch geht es nicht allen Demonstrierenden rein um die Symbolik: Einige leben schon seit über zwei Jahren dort, besiedelten die verlassenen Häuser oder bauten sich eigene Hütten aus Holz. Lützerath gilt schon länger als Ort des Protests, der aber erst mit der Räumung wirklich bekannt wurde.
Wie ist die Lage aktuell und wie soll es weitergehen?
Die Räumungen durch die Polizei dauern seit mehr als zwei Tagen an. Die zuständige Polizei bestätigte am Freitag, dass die Siedlung oberirdisch grösstenteils geräumt sei. Allerdings habe sich eine unbestimmte Anzahl der Besetzerinnen und Besetzer in Tunneln unter dem Dorf verschanzt, was die Räumung deutlich erschwert. Aachens Polizeipräsident sagte, die Situation sei für diese Personen nicht ungefährlich, weil man nicht wisse, wie stabil die Struktur und wie gut die Luftzufuhr seien.
Dort wo bereits geräumt wurde, reagiert der Energiekonzern RWE schnell: Hütten, Baumhäuser und eine Halle wurden bereits abgerissen, Bäume gefällt.
Die Proteste gehen mittlerweile weit über Lützerath hinaus: In der Region wie auch in anderen Teilen Deutschlands solidarisieren sich Menschen mit den Aktivistinnen und Aktivisten, demonstrieren für das Klima und gegen den Kohleabbau.
Am Freitag reiste zudem die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg nach Lützerath. Auch die deutsche Aktivistin Luisa Neubauer nahm am Donnerstag an einer Sitzblockade auf einer Zufahrtsstrasse zur Siedlung teil und wurde von Polizisten abtransportiert.
(noë)