Trauma-Therapie

Auch Jahre nach der Geburt kann ein Trauma noch nachwirken

· Online seit 15.02.2023, 08:26 Uhr
Manchmal kann die Geburt eines Kindes so ein einschneidendes Erlebnis sein, dass Mütter seelisch und körperlich ein Geburtstrauma erleben. Was das genau bedeutet und wie man am besten damit umzugehen lernt, erklärt eine Therapeutin.
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In der Zeit ihrer Tätigkeit als Hebamme ist die Therapeutin Brigitte Meissner vor allem in der Nachbetreuung immer wieder auf die tiefsitzenden Gefühle der Enttäuschung und des Alleinseins gestossen. Diese Gefühle tauchten vor allem dann auf, wenn die Frauen eine komplizierte und traumatische Entbindung erlebt haben. «Darüber hinaus können hochakute Notfallsituationen, welche die Frauen auch noch wochen-, monate- und sogar jahrelang beschäftigen, die eigene Lebenssituation drastisch belasten», erklärt Meissner im Gespräch.

Dennoch ist ein belastendes Geburtserlebnis immer noch ein recht grosses Tabu. Das bestätigt auch Rahel aus Gebenstorf, die eine schwere Geburt durchleben musste und uns davon erzählte. Viele Frauen fühlen sich mit ihrem Trauma alleine gelassen und sprechen nicht darüber. Genau das will Brigitte Meissner ändern. «Es ist wichtig, dass Frauen und Betroffene wissen, dass es Gleichfühlende gibt.» Das Internet und Social Media habe dabei geholfen, das Thema Geburtstrauma zu enttabuisieren und Betroffene können sich viel schneller verbinden.

Frauen sind oft traurig und enttäuscht

Seit den frühen 2000er-Jahren hat Meissner immer häufiger das Bedürfnis nach einer nachgeburtlichen Betreuung gespürt. «Meine gleichgesinnten Kolleginnen und ich waren uns einig, dass es Unterstützung braucht.» Immer wieder habe sich gezeigt, dass die Frauen enttäuscht und traurig im Wochenbett waren. «Viele Frauen haben eine genaue Vorstellung, wie die Geburt ablaufen soll, machen sich monatelang Gedanken, bereiten sich sorgfältig darauf vor, gehen die Abläufe durch und sind am Ende enttäuscht, wenn die Geburt anders verläuft – und diese Enttäuschung kann richtig tief gehen», erklärt die Therapeutin. Die Bindung zum Kind könne so massgeblich beeinträchtigt werden.

Um im Netzwerk aufgenommen zu werden, ist es für Hebammen eine grundlegende Bedingung, dass sie durch Weiterbildungen mit den psychologischen Prozessen vertraut sein müssen, um die Muster von Traumata zu verstehen. «Das heisst aber auch, unsere Arbeit als Hebammen zu reflektieren und zu fragen, ob die Frauen von den Geschehnissen traumatisiert wurden oder ob die Begleitung unfreundlich war.» Meissner hat sich daher zur Craniosacral-Therapeutin ausbilden lassen und Werkzeuge erlernt, um den betroffenen Personen helfen zu können.

Das Bewusstsein verändert sich über die Jahre

Am Anfang ihrer Arbeit kamen die Frauen oft erst Jahre nach der Geburt zu ihr in die Praxis. Manchmal sogar erst 15 Jahre später. Mittlerweile habe sich das Bewusstsein verändert und die Zeitspanne verkürzt. «Die betroffenen Personen kommen jetzt nach zwei Jahren, manche gar nach sechs Monaten zu mir oder sogar noch früher. Sie bemerken, dass es ihnen guttun würde, mit jemandem über das Erlebte zu sprechen», erklärt sie.

Die Unterstützungsmöglichkeiten sind individuell auf die Person zugeschnitten. «Jeder Mensch erlebt ein Trauma auf unterschiedliche Art und reagiert anders. Daher muss auch jede einzelne Patientin oder jeder Patient gesondert betrachtet werden.» Das fängt bei der Therapeutin schon am Telefon an: «Jede interessierte Person muss sich bei mir telefonisch anmelden. Dort kann ich schon gleich herausfinden, warum die Betroffenen zu mir kommen wollen.» Manche sagen, sie kommen für sich oder für sich und das Baby. Als Nächstes will die Therapeutin herausfinden, wie lange die Geburt zurückliegt. So könne sie sich individuell auf die Patienten einstellen.

Sollte die Geburt kürzer als sechs Wochen her sein, befinden sich die Frauen noch im Wochenbett. In dieser Zeit lernen sich die Eltern und das Neugeborene genau kennen, es ist noch alles frisch und die Aktivitäten sollten deutlich heruntergeschraubt sein. Dazu ist es eine Zeit der Erholung, welche auch genutzt werden soll. Befinden sich die Frauen noch in dieser Phase, geht Meissner aus Achtsamkeit noch nicht auf die Geburt ein. «Das Trauma ist noch zu frisch und aufwühlend. Da ist es eher kontraproduktiv, die Geburt schon genauer zu besprechen und zu erleben. Das kann überwältigen.» Dies wird den Frauen auch achtsam kommuniziert.

Dennoch dürfe eine Frau gerne in dieser Phase mit ihrem Kind kommen. «Wir schauen dann gemeinsam, wo wir Ressourcen für die Bindung finden. Wie können wir diese stärken, welche Therapien passen zu den Klienten? Ich leite sie an, wie sie mit ihrem Kind beim Stillen reden kann, was sie erzählen soll. Schliesslich verstehen die Babys mehr als wir denken», fügt Meissner an. Damit könne die unsichtbare Mauer fallen. «Das ist der erste Schritt. Dann entscheidet die Frau, ob sie weiterhin mit ihrem Baby kommen will oder ob sie die Therapie nun für sich alleine machen möchte.»

Zum Beispiel könne das körperliche Wohlbefinden der Frau oder des Babys mit Craniosacral Therapie gefördert werden oder mit verschiedenen Möglichkeiten die Bindung zwischen Mutter und Kind gefördert werden.

Meissner dient der Unterstützung, welche Form der Therapie angewendet wird, entscheiden die Patienten. «Daher ist es wichtig, genau in sich hineinzuhören und den Bedarf zu kommunizieren.» Was bedrückt die Patientin, was ist die emotionale Geschichte? «Dann wird gemeinsam ein Ziel definiert und wie wir dahinkommen. Zusätzlich wird noch eine kleine Familienanamnese gemacht.» Damit kann die Therapeutin herausfinden, wo sie im folgenden Gespräch ansetzen soll – ob und welche Traumata schon in der Kind- und Jugendzeit stattfanden.

Den Frauen und Betroffenen soll so der Raum geboten werden, sich in einem achtsamen Umgang zu öffnen, die Hilfe und den Austausch anzunehmen. «Ich will vermitteln, dass die Personen sich nicht schlecht fühlen sollen, weil sie Hilfe annehmen. Es ist keine Schande, etwas nicht alleine zu schaffen», so Meissner. Es sei sehr wichtig, Traumata zu verarbeiten, darüber zu sprechen, sich auszutauschen. «Im schlimmsten Fall wird ein nicht verarbeitetes Trauma an die Kinder weitergegeben, die ihr Trauma wiederum an ihre Kinder weitergeben und so weiter.» Daher sei es elementar, dies früh genug zu lösen, empfiehlt die Therapeutin.

veröffentlicht: 15. Februar 2023 08:26
aktualisiert: 15. Februar 2023 08:26
Quelle: ArgoviaToday

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