Region Baden

Es gibt mehr Hausärzte – trotzdem haben Praxen Platzmangel

· Online seit 14.04.2023, 06:44 Uhr
Zahlen von Statistik Aargau zeigen, dass es heute mehr Hausärzte gibt als vor zehn Jahren. Trotzdem kämpfen wir jetzt mit einem Ärztemangel. Eva Schibli vom Doktorhaus in Fislisbach erklärt weshalb und verrät, was die Region Baden besser macht als andere.
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Wer in der Region Baden einen Hausarzt sucht, verzweifelt oft am Aufnahmestopp für neue Patientinnen und Patienten. Dieser herrscht in vielen Praxen. Ausserdem gibt es im gesamten Bezirk acht Gemeinden, die überhaupt keinen Hausarzt haben. Wer in Bellikon, Freienwil, Killwangen, Künten, Mägenwil, Remetschwil, Turgi oder Wohlenschwil lebt, muss auf Praxen in Nachbargemeinden ausweichen.

Man könnte meinen, es gibt in der Region immer weniger Ärztinnen und Ärzte. Die Statistiken des Kantons Aargau zeigen jedoch, dass die Anzahl Ärztinnen und Ärzte insgesamt sowie die Anzahl Hausärztinnen und Hausärzte in den vergangenen zehn Jahren zugenommen hat. Gab es 2011 noch 252 Ärzte im Bezirk Baden, waren es 2022 427. Und waren 2011 noch 81 Hausärzte hier tätig, sind es jetzt 116.

Weshalb also, sprechen alle von Ärztemangel? Und weshalb sind die Praxen in der Region derart ausgelastet, dass sie keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen können?

Ältere Ärzte gehen in Pension, jüngere arbeiten weniger

Ärztemangel bedeutet nicht einfach ein Mangel an Ärzten. Vielmehr beschreibt der Ausdruck eine Situation im Gesundheitssystem, in der die Nachfrage nach ärztlichen Leistungen ein knappes Angebot übersteigt. Eva Schibli, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin im Doktorhaus in Fislisbach und Vorstehende des Vereins Grundversorger Region Baden, fasst das Problem in einem Wort zusammen: Generationenwechsel.

Darunter fallen zwei ausschlaggebende Faktoren. Zum einen wollen jüngere Ärzte und vor allem Ärztinnen mehrheitlich Teilzeit arbeiten – die Work-Life-Balance hat heute einen höheren Stellenwert als früher. Daher stehen weniger Sprechstundentermine zur Verfügung. Schibli sagt:  «Die älteren Ärzte arbeiteten von Montag bis Samstag und sahen bis zu 60 Patientinnen und Patienten pro Tag. Das macht heute niemand mehr.»

Zum anderen gehen viele der Babyboomer-Generation demnächst in Pension. Für ihre eigene Praxis finden sie aber nur selten eine Nachfolge. «In den nächsten Jahren verstärkt sich das Problem also weiter», sagt Schibli. «Wahrscheinlich wird es erst ab 2035 eine Verbesserung geben, weil man jetzt mehr in die Ausbildung investiert.»

Statistisch gesehen gibt es zwar mehr Grundversorger als noch vor zehn Jahren. Die jüngeren Ärztinnen und Ärzte, die jetzt das Ruder von ihren älteren Kolleginnen und Kollegen übernehmen, decken aber weniger Stellenprozente ab, behandeln weniger Patientinnen und Patienten und betreiben insgesamt weniger Praxen.

Grössere Hürden, weniger Anreiz: Der Beruf ist zu wenig attraktiv

Bleibt die Frage, was zu dieser Entwicklung geführt hat. Schibli nennt die Attraktivität des Berufswegs als wichtigen Faktor. So wurde lange Zeit an der Ausbildung gespart – der Numerus Clausus wurde eingeführt, weniger Studenten wurden zugelassen. «Dadurch wurden die Hürden für angehende Ärztinnen und Ärzte grösser», erklärt Schibli. Weiter würden viele Spezialisten wie etwa Augenärzte besser als ein Hausarzt verdienen, was solche Berufe attraktiver macht.

Hinzu kommen die persönlichen Hemmungen, wenn es darum geht, eine eigene Praxis zu führen. «Macht man sich selbstständig, wird man zum Unternehmer», erklärt Schibli. Geschäftsführung, Buchhaltung und Personalmanagement kommen zu den täglichen Arbeiten hinzu, man müsse Praxisassistentinnen und -assistenten anstellen – auf dem Markt ebenfalls Mangelware. «Diese Anforderungen schrecken viele Assistenzärzte davon ab, dieses Risiko einzugehen», sagt Schibli.

Zuletzt der obligatorische Notfalldienst. Wie Schibli sagt, ist dieser im Bezirk Baden jedoch sehr gut gelöst. «Früher musste man an vordefinierten Wochenenden in seiner eigenen Praxis einen Notfalldienst anbieten», erzählt sie. «Dann kamen aber nicht nur eigene Patientinnen und Patienten, sondern auch fremde. Das war immer ein grosser Aufwand und schwierig zu planen.»

Heute könne sich jeder Arzt und jede Ärztin in der Notfallpraxis des Kantonsspitals Baden selbst für einen Dienst einteilen. Weil die Abrechnungen über das Spital laufen, verringere sich dadurch der administrative Aufwand. Das sei ein grosser Vorteil, findet Schibli. Und es sei nachahmenswert. In anderen Regionen des Kantons werde dies nämlich nicht so gehandhabt, weshalb der obligatorische Notfalldienst immer noch viele willige Ärztinnen und Ärzte abschrecke.

Ausbildung hat sich verbessert, in der Bürokratie hapert es

Die genannten Probleme sind schon länger bekannt. Die Lösung kommt aber nur schleppend. «Gut ist: Es geht viel», sagt Schibli. «Mittlerweile wird die Hausarztmedizin bereits bei der Ausbildung mit speziellen Kursen und Praktika gefördert.» Auch fördere der Kanton Aargau die Weiterbildung von Hausärzten, indem sechs-monatige Praktika finanziell unterstützt werden.

Verbessern müsse sich jedoch vor allem die Bürokratie. «Wenn jemand einen Hirnschlag hat, ist allen klar, dass er einen Cholesterinsenker braucht – ausser den Krankenkassen», sagt sie. «Sie fragen dann, wieso dem Patienten dieses Medikament verordnet wurde und ich muss ihnen in einem Brief alles erklären – obwohl das alles aus der Akte ersichtlich wäre.»

Ein eigentlich sinnloser Aufwand. Und unter anderem ein Grund, weshalb sich immer mehr Hausärztinnen und Hausärzte in einer Gruppenpraxis anstellen lassen. «Dort wird die Geschäftsführung aufgeteilt, man muss sich nicht um eine Ferienvertretung kümmern, muss keine Mitarbeitergespräche führen», sagt Schibli. «Kurz gesagt: Man ist kein Einzelkämpfer und gewinnt an Sicherheit.»

Nachteile davon seien jedoch, dass der persönliche Kontakt zu den Patientinnen und Patienten verloren geht und sich die medizischen Leistungen so auf einen Standort, meist urban, konzentrieren. Kleinere Gemeinden haben da das Nachsehen.

Die Telemedizin kann den Gang zum Arzt nicht ersetzen

Oft als Lösungsansatz genannt wird auch die Telemedizin. In dieser sieht Schibli jedoch keinen Ersatz für den Gang in die Praxis. «Letztlich kann man einen Ausschlag oder eine Gelenksverletzung nicht übers Telefon behandeln», sagt sie. Wenn es jedoch um eine Einschätzung geht, ob ein Patient sein Leiden einer Ärztin zeigen soll oder nicht, könnten telefonische Auskünfte die Hausärzte sicher entlasten.

«In unserem Berufsfeld hat sich schon vieles verbessert», ist Schibli überzeugt. «Aber bis wir das Problem in den Griff kriegen, ist es noch ein langer Weg.» Dabei sei Hausarzt zu sein ein wahnsinnig schöner Job. «Ich sehe Leute von der Geburt bis zum Lebensende, betreue ganze Familien und jeder Tag ist anders», sagt Schibli. «Hausärztin zu sein, gibt mir vieles zurück.»

(Sarah Kunz/Aargauer Zeitung)

veröffentlicht: 14. April 2023 06:44
aktualisiert: 14. April 2023 06:44
Quelle: Aargauer Zeitung

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