Aargau/Solothurn

Belästigte Frau bittet mich um Hilfe – wie handelt man als Mann richtig?

Zivilcourage

Belästigte Frau bittet mich um Hilfe – wie handelt man als Mann richtig?

· Online seit 04.11.2023, 16:29 Uhr
Eine Frau kommt plötzlich auf einen zu und bittet um Hilfe, weil sie sich belästigt fühlt. Im konkreten Fall klärte sich alles friedlich. Doch nicht immer ist die Situation eindeutig. Gerade wenn man alleine ist und nicht 100-prozentig beurteilen kann, ob etwas zu weit geht, kann das bei Zeuginnen und Zeugen Unsicherheit auslösen.
Anzeige

Als ich an einem Abend gegen 22 Uhr an einem Bahnhof eintraf, kam eine junge, mir fremde Frau auf mich zu. Ohne ein Wort zu sagen, umarmte sie mich plötzlich. Perplex dachte ich mir: «Bin ich so verwirrt, dass ich mich an meine Bekanntschaften nicht erinnern kann?» Bevor ich allerdings reagieren konnte, flüsterte sie mir ins Ohr: «Ich bin vorher im Zug von zwei Männern belästigt worden, kannst du bitte kurz so tun, als ob du mich kennst?» Bevor ich antworten konnte, kamen auch zwei junge Männer vom Bahnhof her und einer von ihnen rief einen weiblichen Namen, den ich nicht richtig verstand. Die Blicke der Männer gingen in unsere Richtung und sie kamen anfangs auch auf uns zu, bis sie dann plötzlich wieder umkehrten und Richtung Bahnhof gingen. Alles ging sehr schnell, ohne wirklich etwas gemacht zu haben, war ich der Bitte der jungen Frau nachgekommen.

Später erklärte sie mir, dass sie im Zug verbal belästigt worden sei und dass einer der beiden Anstalten gemacht habe, sie anzufassen. Als sie dann aussteigen wollte, seien ihr dann beide nachgelaufen. Sie habe sich gedacht, dass sie von den beiden in Ruhe gelassen werde, wenn sie sehen, dass sie bei einem anderen Mann steht. Zum guten Glück ging ihre Taktik auf und es kam weder zu einer verbalen noch zu einer physischen Auseinandersetzung.

Weil sie ihren Anschluss verpasst hatte, organisierte sie schliesslich jemanden aus dem Bekanntenkreis, der sie abholen sollte. Ich entschloss mich, mit ihr auf ihre Mitfahrgelegenheit zu warten, um sicherzugehen, dass der jungen Frau nichts passiert.

Situation ist nicht immer eindeutig

Als ich mich dann schliesslich auf dem Heimweg befand, stellte ich mir die Frage, ob ich richtig reagiert habe und ob ich etwas hätte besser machen können. «Eigentlich ist ja gar nichts Schlimmes passiert», dachte ich mir nach einer Weile, bevor ich zur Einsicht kam: «Klar, es gibt viel schlimmere Fälle von Belästigung. Aber wer bin ich, über eine Situation zu urteilen, ob sie schlimm war oder nicht, ohne überhaupt dabei gewesen zu sein?» Viel mehr fragte ich mich dann, wie ich in der von ihr geschilderten Situation reagiert hätte, wenn ich anwesend gewesen wäre. «Wäre es mir überhaupt aufgefallen, dass etwas nicht in Ordnung ist?»

Leiterin der Opferberatung ordnet ein

Dass die Situation friedlich gelöst werden konnte, spreche dafür, dass mein «Verhalten» respektive das Unterfangen der jungen Frau, Schutz bei mir zu suchen, richtig war, sagt Susanne Nielen, Leiterin der Opferberatung im Kanton Aargau. Doch anders als in diesem Erlebnis gibt es manchmal Fälle, in denen man direkt nebendran steht, wenn Frauen belästigt werden. Wie soll man sich also in einem solchen Setting verhalten?

Was kann man(n) tun, wenn man Zeuge von Belästigung wird?

Je nachdem ist es auch nicht immer eindeutig, ob die betroffene Person mit der Situation einverstanden ist oder ob es sich um Belästigung oder Übergriffigkeit handelt. Laut Nielen kann sowohl diese Unsicherheit als auch das Gefühl, sich nicht blamieren zu wollen, dazu führen, dass einige gar nicht eingreifen. Die Leiterin der Opferberatung rät daher, bevor man handelt, die in Bedrängnis wirkende Person direkt anzusprechen und Fragen zu stellen wie: «Brauchst du Hilfe? Kann ich dich unterstützen?» Die betroffene Person kann dann immer noch sagen, dass alles in Ordnung ist oder eben die Hilfe annehmen. Wenn es noch weitere Leute in unmittelbarer Nähe hat, sei es auch ratsam, diese anzusprechen und auf eine Situation aufmerksam zu machen.

Fragen zu stellen und klarzumachen, dass man für die betroffene Person da ist, ist besonders als männlicher Zeuge wichtig, um das Gefühl von Vertrauen zu vermitteln, sagt Nielen. «Grundsätzlich sollte man sich als Mann bewusst sein, dass man in bestimmten Situationen als bedrohlich wahrgenommen werden kann», sagt Nielen gegenüber ArgoviaToday. Vielen Männern sei diese Thematik gar nicht bewusst, da sie solche Situationen nicht kennen.

Zivilcourage ist laut Nielen in solchen Fällen natürlich erwünscht, jedoch gibt es auch Grenzen. «Wenn es um körperliche Gewalt geht, sollte man auf keinen Fall einschreiten, sondern unbedingt die Polizei anrufen», so die Leiterin der Opferberatung. Ihr zufolge braucht es für viele Menschen immer noch Überwindung, die 117 zu wählen, weil sie Angst haben, dass es sich um einen Bagatellfall handelt oder dass sie nicht ernst genommen werden. «Ich kann einfach sagen, dass man das machen soll, man wird ernst genommen», sagt Nielen abschliessend.

veröffentlicht: 4. November 2023 16:29
aktualisiert: 4. November 2023 16:29
Quelle: ArgoviaToday

Anzeige

Mehr für dich

Anzeige
Anzeige
argoviatoday@chmedia.ch