Gerade freuten sich die Ersten über das Ende des Coronawinters, da startete Putin einen Angriffskrieg auf die Ukraine und nun droht uns im Winter auch noch der Strom auszugehen. Wie viel Krise vertragen wir?
Eine solche Dichte an gesellschaftlichen Krisen, wie wir sie im Moment erleben, hatten wir seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr. Damit klarzukommen, ist anspruchsvoll – insbesondere für junge Menschen. Allerdings vertragen wir viel; der Mensch ist resilient. Das hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt. Ein Beispiel ist der zweite Weltkrieg. Auch mit lang anhaltenden Krisen kommen wir als Gesellschaft erstaunlich gut klar. Anders im Einzelnen: Wie wir als Individuum mit schwierigen Zeiten umgehen und eine Krise bewältigen, ist sehr unterschiedlich und hängt mit verschiedenen Faktoren zusammen.
Mit welchen?
Als wie einschneidend wir eine Krise empfinden, hängt stark davon ab, inwiefern uns die Auswirkungen persönlich betreffen und welche Möglichkeiten wir haben, uns der Situation zu entziehen. Nehmen wir die steigenden Strompreise: Jemandem, der jetzt schon Probleme hat, finanziell über die Runden zu kommen, dem setzen die steigenden Ölpreise psychisch mehr zu, als Menschen, die finanziell gut dastehen.
Während Corona ging es darum, ältere und kranke Menschen zu schützen; dafür eigene Freiheiten einzuschränken. Letzte Woche hat der Bund Massnahmen zum Stromsparen bekanntgegeben. Wieder geht es darum, solidarisch den eigenen Verbrauch zu reduzieren, damit der Strom für alle reicht. Was macht das mit uns? Werden wir als Gesellschaft langfristig solidarischer oder bewirkt das das Gegenteil?
Ich bin davon überzeugt, dass Solidarität Grenzen hat. Das hat man gerade gegen Ende der letzten Coronaperiode deutlich gemerkt. Die Menschen wurden zunehmend verzweifelter und hatten immer mehr Mühe, die Massnahmen einzuhalten. Niemand kann sich und seine Bedürfnisse dauerhaft zurückhalten.
Was passiert dann?
Irgendwann werden wir wieder die eigenen, die egoistischen Bedürfnisse in den Vordergrund rücken. Besonders deutlich wird sich das zeigen, wenn es um Existenzielles geht. Wenn zum Beispiel die einen frieren müssen, während andere im Warmen sitzen. Das kann zu zwischenmenschlichen Spannungen führen. Die Grundbedürfnisse müssen gesichert sein, damit wir als Gesellschaft langfristig funktionieren.
Eine Befragung vom Meinungsforschungsinstitut Bern (gfs) zeigt, dass insbesondere junge Erwachsene unter Krisen leiden und die subjektiv empfundene Belastung mit dem Alter abnimmt. Werden wir gleichgültiger, wenn wir älter werden?
Junge Menschen sind mit starken und sehr anspruchsvollen Entwicklungsaufgaben beschäftigt. Fragen, nach dem Ich, danach, was für ein Leben man führen und welcher Mensch man sein möchte, stehen im Mittelpunkt. Das ist eine Phase, die sehr krisenanfällig ist.
Warum sind Junge krisenanfälliger als Ältere?
Je älter man wird, umso gefestigter wird man in seiner Persönlichkeit. Hinzu kommt, dass junge Menschen in der Regel weniger stabile Beziehungen und andere finanzielle, berufliche und soziale Konstanten in ihrem Leben haben als Erwachsene. Wenn in dieser sowieso schon unsicheren Lebensphase ein Krieg oder die Pandemie dazukommen, kann das überfordern. Ältere Menschen mit mehr Lebenserfahrung gehen oft gefasster mit solchen Situationen um. Auch, weil sie eher Bewältigungsstrategien haben, auf die sie zurückgreifen können. Als junger Mensch muss man das alles erst noch aufbauen. Insofern: Ja, die Krise trifft die Jungen besonders.
Gleichzeitig gilt die Generation Z als die politischste Generation seit der 68er Bewegung. Tragen Krisen auch dazu bei, dass junge Menschen politisch aktiver werden?
Ich denke schon. Die Klimabewegung, allen voran die «Fridays for Future» sind das beste Beispiel. Gerade im Klimabereich engagieren sich durchschnittlich viele Jüngere. Sie verdrängen äussere Bedrohungen wie den Klimawandel weniger. Dies, weil sie persönlich stärker betroffen sind. Sie müssen noch länger mit den Folgen des Klimawandels klarkommen als ältere Generationen.
Was macht Krieg, Pandemie, Klima-, oder Stromkrise mit einem jungen Menschen?
Das kann man nicht so generell beantworten. Die einen ziehen sich eher zurück, fühlen sich bedrückt und haben vielleicht sogar Angst. Das kann so weit gehen, dass sie nicht mehr mit dem Leben klar kommen und in eine depressive Phase fallen. Anderen hilft gerade das Gegenteil: das Leben möglichst normal weiterzuführen, oder sich abzulenken. Auch diese Strategie kann ins Ungesunde kippen, wenn daraus eine gewisse Gleichgültigkeit entsteht. Es ist aber auch festzuhalten: Viele junge Menschen kommen sehr gut klar in Krisen.
Wovon hängt es ab, wie gut man mit Krisen klarkommt?
Die Erfahrungen und Daten, die man in der Pandemie gesammelt hat, zeigen, dass insbesondere Menschen, die schon vor der Pandemie psycho-sozial belastet waren, eher destabilisiert werden. Zum Beispiel: Wenn jemand schon vorher familiäre Probleme, oder eine Tendenz zu einer Essstörung oder einer Depression hatte, ist die Gefahr, in eine Krise zu fallen, deutlich höher.
Spüren Sie auch, dass mehr junge Leute mit psychischen Problemen zu Ihnen in die Therapie kommen als noch vor drei Jahren?
Ja. Und das ist nicht nur in meiner Praxis so. Schweizweit ist die Nachfrage junger Menschen nach psychologischer Unterstützung in den letzten Jahren frappant angestiegen.
Mit welchen Problemen kommen sie zu Ihnen?
Fehlende Perspektiven oder ein Gefühl von Machtlosigkeit kann gerade bei jungen Menschen eine depressive Krise auslösen. Aber auch Fälle von Ess- oder Angststörungen haben zugenommen. Es melden sich auch Eltern, die verzweifelt sind, weil sich ihr Kind sozial immer mehr zurückzieht.
Von Krisen geprägte Zeiten gab es schon immer. Man denke an die Ölkrise in den 60er-Jahren, die Terroranschläge 2001 oder die Finanzkrise 2008. Medial sind Krisen heute aber viel präsenter.
Das stimmt. Im digitalen Bereich haben wir in den letzten Jahrzehnten eine unglaubliche Entwicklung durchgemacht. Per Liveticker oder über soziale Medien können wir heute quasi in Echtzeit beobachten, was in der Welt passiert. Das kann belasten und beängstigen. Auch hier sind es wieder die Jüngeren, die stärker betroffen sind, weil sie mehr Zeit im Internet verbringen als ihre Elterngeneration. Mit der Informationsflut klar zu kommen, das Gelesene und Gesehene zu filtern und den Umgang damit zu finden, ist eine weitere Anforderung, denen jüngere Menschen mehr ausgesetzt sind.
Die Zukunft der heranwachsenden Generation kann sehr beängstigend sein: Die Prognosen für den Klimawandel sehen nicht gut aus, die wirtschaftliche Entwicklung stagniert, der Krieg in der Ukraine droht zu eskalieren. Wie sehen Sie aus psychologischer Sicht in die Zukunft? Droht uns bald der totale Kollaps?
Ich persönlich glaube das nicht; finde es aber auch nicht sinnvoll, solche Prognosen zu stellen. Trotz Krieg und Pandemie sollten wir uns nicht nur auf die Bedrohungen und Negativschlagzeilen fokussieren, sondern versuchen, den Gesamtüberblick zu behalten. In der Schweiz geht es uns verhältnismässig sehr gut. Das gerät bei all den negativen Nachrichten, die uns jeden Tag erreichen, schnell in Vergessenheit. Es sind schwierige Zeiten und wir stehen vor Problemen, die wir bewältigen müssen. Das funktioniert aber nur mit kühlem Kopf und guten kognitiven Fähigkeiten.
Kann man aus all den Erfahrungen auch etwas Positives fürs weitere Leben mitnehmen?
Eine Krise kann auch als Chance genutzt werden, sich besser kennenzulernen und weiterzuentwickeln, weil man sich mehr mit sich selbst auseinandersetzt und Bewältigungsstrategien entwickelt, auf die man in Zukunft zurückgreifen kann. So wird man von Krise zu Krise gelassener, weil man mit der Zeit immer mehr auf die eigenen Fähigkeiten und darauf, «dass wir das schon schaffen», vertraut.