Corona-Öffnungen

Die Suche nach der Balance: Risikopatienten zwischen Freiheit und Gefahr

· Online seit 11.02.2022, 06:42 Uhr
Das ganze Land spricht von Corona-Lockerungen. Gross ist die Freude, endlich Licht am Ende des Pandemie-Tunnels zu sehen. Für einige vulnerable Personen ist diese Situation aber gar nicht so einfach – auch wenn man sich nach Freiheit sehnt.
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Eine Mehrheit der Kantone will die meisten Corona-Massnahmen Mitte Februar beenden. Dies zeigen die Vernehmlassungsantworten an den Bundesrat. Die Landesregierung entscheidet kommende Woche definitiv, wie es weitergeht. Wahrscheinlich ist, dass die meisten Massnahmen fallen werden, etwa die Zertifikatspflicht oder auch das Maskentragen in Läden. Für den grössten Teil der Schweizer Bevölkerung dürfte dies ein Grund zum Feiern sein, nach beinahe zwei Jahren der Entbehrungen und Einschränkungen. Doch was bedeutet die Öffnung für vulnerable Personen oder Risikopatienten?

Besonders gefährdete Personen sind beispielsweise Krebskranke. Sie sprechen aufgrund der Immunsuppression weniger gut auf die Impfung an und sind weniger gut geschützt, sagt Stefanie de Borba, Sprecherin der Krebsliga zum «Blick». Diese Personen seien daher darauf angewiesen, dass ihr Umfeld geimpft ist und Schutzmassnahmen einhält, weil es sonst schwierig werde, sich vor einer Ansteckung zu schützen.

Gesellschaft muss neuen Umgang finden

«Auch vor Covid-19 gab es Risikopatientinnen und -Patienten, zum Beispiel Personen mit eingeschränkter Abwehr oder solche mit immunsupprimierenden Medikamenten, die sich speziell schützen mussten», sagt Serge Reichlin, CEO von der Klinik Barmelweid, zu Radio Argovia. «Das wird auch nach den Öffnungsschritten der Fall sein. Wir müssen schauen, wie wir diese Menschen nun in dieser neuen Situation schützen.» Man müsse als Gesellschaft einen neuen Umgang finden. Es sei ja auch so, dass man als Patient oder als Patientin weiterhin eine Maske tragen dürfe, auch wenn es keine Maskentragepflicht mehr gebe, sagt Reichlin.

In der Klinik Barmelweid werden neben Herz- oder Lungenkranken auch Menschen behandelt, die unter Long Covid leiden. Was sagen solche Patientinnen und Patienten zu den Öffnungen? «Es ist natürlich einfacher für Menschen, die eine leichte Corona-Erkrankung hatten, oder gar nicht krank waren, jetzt den Öffnungen entgegenzusehen. Patientinnen und Patienten, die auf der Intensivstation waren oder unter Long Covid leiden, sagen schon eher, dass sie ein vorsichtiges Vorgehen befürworten würden», sagt Reichlin.

Spitaldurchseuchung nicht sinnvoll

Keine Option für Reichlin ist die Durchseuchung von Spitälern oder Gesundheitseinrichtungen, wie sie Andre Rotzetter, Präsident der Aargauer Pflegeinstitutionen, gegenüber Tele M1 forderte. Man habe in Spitälern, Pflege- und Betreuungszentren die Verantwortung, den bestmöglichen Schutz zu bieten. Dafür sei eine Durchseuchung solcher Einrichtungen der falsche Weg. Es gebe Schutzmassnahmen und Impfungen – da könne man Chancen und Risiken schlicht besser abwägen, als vulnerable Personen einer Infektion auszusetzen.

Quelle: TeleM1

Man habe jetzt zwei Jahre lang Schutzmassnahmen aufgebaut, immer angepasst an die pandemische Situation. In Spitälern und anderen Gesundheitseinrichtungen, sollte man diese Massnahmen nun auch Schritt für Schritt wieder abbauen. Einen «Freedom Day», wie er möglicherweise in der Gesamtgesellschaft kommen wird, sei für Spitäler nicht sinnvoll.

Wo ist die Balance?

Gesellschaftlich öffnen, Massnahmen in Spitälern aber nicht zu früh abbauen, das also die Devise aus Sicht des CEO der Reha-Klinik Barmelweid. Und was sagen Risiko-Patientinnen und -Patienten, die nicht in einer Klink untergebracht sind? Ein Anruf bei der Patientenstelle Aargau Solothurn, die die Interessen dieser Personen vertritt, zeigt: Bisher gibt es keine Beanstandungen. Stellenleiterin und Ombudsfrau Cornelia Okle sagt: «Wir hatten keinen Kontakt zu Risikopatientinnen und -Patienten, die sich sorgen.» Man müsse auch bedenken, dass es solche gebe, die vom Wegfall einiger Massnahmen profitierten. «Wenn beispielsweise jemand nicht gut atmen kann, ist die Maske eher ungünstig.» Auch psychisch labile Personen, die mit Massnahmen und Vorschriften, aber auch mit Isolation und Einsamkeit zu kämpfen haben, würden mutmasslich von Öffnungen profitieren.

Dass es in jüngster Vergangenheit keine Meldungen gab, müsse aber nicht heissen, dass alle Menschen in Alters- und Pflegeheimen oder auch Institutionen für Menschen mit Behinderung keine Probleme mit den Öffnungen hätten. Gespräche aus den vergangenen Monaten zeigten, dass sich einige auch Sorgen machen, sich mit Covid-19 anzustecken, wenn die Massnahmen fallen, sagt Okle.

«Patientinnen und Patienten, die lange hospitalisiert sind oder an psychischen Erkrankungen leiden, würden beispielsweise von der Lockerung des Besuchsregimes enorm profitieren», sagt auch Reichlin. «Denn der persönliche Kontakt zu Freunden und Familie ist ebenfalls ein wichtiger Teil eines Heilungsprozesses.» Die grösste Herausforderung für Gesundheitseinrichtungen werde deswegen, eine Balance zu finden zwischen gesellschaftlicher Öffnung und Schutz der vulnerablen Personen.

veröffentlicht: 11. Februar 2022 06:42
aktualisiert: 11. Februar 2022 06:42
Quelle: ArgoviaToday

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