Sexueller Missbrauch

«Ich werde jedes Mal daran erinnert, wenn ich eine Kirche sehe»

13.09.2023, 09:32 Uhr
· Online seit 12.09.2023, 17:16 Uhr
Eine neue Studie der Uni Zürich beziffert die Zahl der Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche auf 1002. Diese zeigt auf, wie gross das Ausmass der sexuellen Gewalt in der Kirche sein könnte. Einer der Betroffenen ist der Aargauer Andreas Santoni. Bis heute belastet ihn seine Vergangenheit.
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Die Forschenden der Universität Zürich, die Nachforschungen angestellt haben, sind auf insgesamt 1002 Missbrauchsfälle gestossen. Diese haben sich alle in den letzten 73 Jahren ereignet. Der Grossteil der Fälle soll bereits vor 1970 passiert sein. In 56 Prozent der Fälle waren die Täter männlich, 74 Prozent der Fälle betrafen Minderjährige.

«Bin überzeugt, dass es mehr als 1000 sind»

Andreas Santoni aus Stetten ist einer von ihnen. Er wurde als Kind mehrfach Opfer eines Pfarrers, der ihn sexuell missbrauchte. Dass es – wie die aktuelle Studie zeigt – noch Hunderte weitere Opfer gibt, geht ihm nahe. «Es ist wahnsinnig. Damals, als ich an die Öffentlichkeit ging, sagte die Kirche, dass sich bis zu diesem Zeitpunkt 225 Opfer freiwillig gemeldet hätten. Jetzt sind es schon über 1000. Ich finde es sehr schlimm», sagt Santoni gegenüber Tele M1.

Er ist sich sicher, dass die Geschichte noch lange kein Ende hat: «Ich bin überzeugt, dass es viel mehr als nur 1000 sind. Es gibt viele Betroffene, die gar nicht mehr leben und so auch nichts mehr erzählen können.»

Jede Kirche erinnert ihn an den Missbrauch

Der Missbrauch an Andreas Santoni geschah in einem Kinderheim. Mit ihm teilten noch drei weitere Jungen das Zimmer. Zwei von ihnen wurden drogenabhängig und sind heute bereits tot, der Dritte spricht nicht über die Vorfälle. Santoni ist sich jedoch sicher, dass er bei weitem nicht das einzige Opfer dieses Pfarrers war. Das sagt ihm einerseits sein Bauchgefühl, andererseits konnte er mehrere andere Vorfälle des sexuellen Missbrauchs in jenem Kinderheim beobachten.

Bis heute hat er mit den Folgen des Missbrauchs zu kämpfen. Es vergehe praktisch kein Tag, an dem er nicht daran denke. «Ich werde jedes Mal daran erinnert, wenn ich eine Kirche oder einen Geistlichen sehe», erzählt Santoni. «Meine Kinder sind heute in dem Alter, in dem mir das passiert ist. Wenn ich nur schon das Wort ‹Religionsunterricht› höre, klingeln bei mir die Alarmglocken.»

«Ich bin bestürzt und beschämt»

Auch Luc Humbel, Präsident der katholischen Kirche des Kantons Aargau, ist erschüttert über die Ergebnisse der Studie. «Ich bin als Mitglied und Verantwortungsträger der römisch-katholischen Kirche in der Schweiz bestürzt und beschämt. Meine Gedanken sind bei den Betroffenen. Ich bin froh, dass die Studie einzig nach wissenschaftlichen Kriterien und ausserhalb des Machtbereichs der Kirche von der Universität Zürich hat verfasst werden können», so Humbel zu Tele M1.

Viele der Betroffenen sind minderjährig – laut der Studie über 70 Prozent. Ist Pädophilie also ein akutes Problem in der Kirche? Ja, so Humbel. «Einem solchen Schluss kann kaum widersprochen werden. Die Sexualmoral der Kirche, die fehlende Gleichberechtigung und weitere systemische Gründe begünstigen, dass eine so grosse Vielzahl von Fällen möglich waren.»

Um dem entgegenzuwirken, würde die römisch-katholische Kirche viel investieren. «Wir sensibilisieren, schulen und schauen hin. Wichtig ist, dass wir im Personalreglement eine Anzeigepflicht bei der Staatsanwaltschaft für alle Mitarbeitenden in der Kirche im Aargau eingeführt haben, wenn nur schon ein Verdacht besteht. Es gibt hier keine Toleranz und keinen Täterschutz. Wir sind immer auf der Seite der Opfer», sagt Humbel weiter.

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veröffentlicht: 12. September 2023 17:16
aktualisiert: 13. September 2023 09:32
Quelle: ArgoviaToday

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