Das Leben in der Schweiz ist zur Normalität zurückgekehrt. Hände werden geschüttelt, Menschen umarmt, auf Masken wird verzichtet und Partys steigen mit tausenden von Menschen. Die Bevölkerung ist im Prä-Corona-Alltag zurück. Diese Unbeschwertheit hält nun schon einige Monate an. Doch mittlerweile steigen die Fall- und Hospitalisationszahlen wieder an. Wir haben mit der St.Galler Kantonsärztin Danuta Zemp darüber gesprochen, was dies bedeutet und was uns in den kommenden Monaten erwartet.
Wie sieht die aktuelle Corona-Situation in der Schweiz aus?
Seit Anfang Juni steigt die Zahl der Neuinfektionen und Hospitalisationen langsam wieder an. Am Dienstag, 21. Juni, meldete das Bundesamt für Gesundheit für die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein 24'704 Neuansteckungen und 251 Spitaleinweisungen. Beide Werte hatten sich im Vergleich zur Vorwoche fast verdoppelt. Ausserdem schreibt das BAG, dass die hohe Anzahl von gemeldeten Tests und der hohe Anteil positiver Tests auf eine erhöhte Dunkelziffer hindeute. Das Infektionsgeschehen könne somit nur eingeschränkt widerspiegelt werden.
Ein Grund zur Sorge? «Ich sehe das relativ entspannt. Wir sind in einer kleinen Sommerwelle. Solch kleinere Wellen wird es noch einige geben. Das Virus hat sich verändert, was in seiner Natur liegt», sagt die St.Galler Kantonsärztin Danuta Zemp.
Wieso steigen aktuell die Corona-Fallzahlen?
Da sich das Virus verändert, sind auch neue Varianten im Umlauf. So etwa die Schwestervariante von Omikron namens BA.5. Diese Variante ist ansteckender. Der Epidemiologe Christian Althaus geht davon aus, dass 15 Prozent der Bevölkerung sich mit der Variante infizieren werden. «Wenn es eine neue Subvariante gibt, stecken sich die Leute an», sagt Danuta Zemp.
Wie ist die Situation in den Spitälern?
Die Situation in den Schweizer Spitälern ist aktuell entspannt. Rund 21 Prozent der Intensivstationen sind durch Covid-Patientinnen und -Patienten belegt, bei einer Gesamtauslastung von 71 Prozent. Gesamthaft sind die Spitäler zu 80 Prozent ausgelastet, 2,7 Prozent machen Covid-Patienten aus.
Haben die Ferien- und Festival-Saison eine Auswirkung auf den Verlauf der Pandemie?
Die Ferienzeit steht kurz bevor und der Festivalsommer in den Startlöchern. Grossveranstaltungen und Auslandsreisen waren in der Vergangenheit wichtige Punkte auf der Massnahmenliste des Bundes. Ansteckungen in diesen Bereichen seien zurzeit aber kein Grund zur Besorgnis, sondern könnten die Pandemiesituation im Herbst eher noch entschärfen. «Die dominierende Untervariante des Virus wechselt alle sechs bis zwölf Monate. Es besteht Hoffnung, dass die Varianten, die jetzt zirkulieren, bis Ende Jahr bleiben. Somit würden Menschen, welche jetzt immunisiert werden, im Herbst wahrscheinlich nicht mehr oder nur leicht krank, was für die allgemeine Pandemiesituation Ende Jahr besser wäre», sagt Zemp.
Soll ich mich wieder vermehrt testen lassen?
Aktuell wird relativ wenig getestet, die Positivitätsrate ist hoch. Im Hinblick auf die Reisezeit steigt das Testvolumen aber langsam wieder an. Aus pandemischer Sicht gebe es aktuell aber keinen Grund, dass die Leute sich wieder vermehrt testen, sagt die Kantonsärztin: «Wir sind nicht in einer Phase, in der wir die Ausbreitung des Virus bremsen. Es gibt aktuell drei Bevölkerungsgruppen, die sich testen lassen sollten: Erstens jene, welche chronische Erkrankungen haben und grundsätzlich zur Risikogruppe gehören. Zweitens sind es Menschen, welche krank sind und ins Spital müssen und drittens sind es jene, welche schwere Krankheitsverläufe aufweisen.»
Nachdem der Bevölkerung in den letzten zwei Jahren das Testen immer wieder seitens Bund und Kantone ans Herz gelegt wurde, sind die Menschen aktuell noch vorsichtig. «Viele wissen nicht, wann sie sich testen lassen sollen. Weist jemand nur leichte Symptome auf und gehört nicht zur Risikogruppe, gibt es eigentlich keine Gründe. Wenn sie das Bedürfnis haben, steht ihnen natürlich nichts im Weg. Gesamthaft gesehen ist es aktuell aber nicht nötig, breit zu testen.»
Kommt im Herbst eine neue Welle?
Dass es im Herbst eine grössere Welle geben wird, ist laut der St.Galler Kantonsärztin absehbar. Die Gründe: die Kälte und das Aufhalten in Innenräumen. «Wenn es kalt wird, sind unsere Schleimhäute anfälliger auf Viruserkrankungen. Ausserdem sind die Menschen drinnen näher aufeinander und können sich eher anhusten.» Es komme dann erst auf die Situation in den Spitälern an, ob gewisse Corona-Massnahmen wieder ergriffen werden sollten.
Braucht es neue Massnahmen?
Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte begrüsst das Vorgehen einiger Spitäler, welche die Maskenpflicht wieder eingeführt haben. «Wir empfehlen eine Maskenpflicht für Ärzte sowie das Gesundheitspersonal in den Praxen, welche direkten Kontakt zu den Patienten haben», sagt Präsidentin Yvonne Gilli, gegenüber SRF.
In der breiten Bevölkerung sieht es aber anders aus, sagt Danuta Zemp: «Zum aktuellen Zeitpunkt sind Massnahmen kein Thema. Man muss nicht Massnahmen einführen, welche eine Belastung mit wenig Nutzen für alle Beteiligten sind. Man will die Verhältnismässigkeit wahren.»
Anders könnte es bei der Welle im Herbst aussehen. Ausschlaggebend dafür sei aber wie auch schon in der Vergangenheit die Auslastung der Spitäler. «Man wird dann sehen, wie sinnvoll es sein wird, wieder Massnahmen zu ergreifen.»
Soll ich mich ein viertes Mal impfen lassen?
Eine zweite Booster-Impfung wird aktuell vom BAG und der Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF) nicht für nötig erachtet. Eine Empfehlung gibt es lediglich für Personen mit einem geschwächten Immunsystem.
Im Kanton Aargau ist der zweite Booster ab nächstem Mittwoch für alle frei zugänglich – gegen Bezahlung. Der Bund hat dies den Kantonen ermöglicht. Dies vor dem Hintergrund, dass es aktuell einige wenige Länder gibt, die eine zweite Booster-Impfung bei der Einreise verlangen.
Die St.Galler Kantonsärztin steht der zweiten Booster-Impfung zwiegespalten gegenüber: «Grundsätzlich ist eine Impfung sinnvoll. Sie schützt vor schweren Verläufen, das sollten wir als Einzelpersonen und Gesellschaft gerade im Hinblick auf den Herbst nicht vergessen. Sie ist das beste Instrument, um das bisher Erlebte nicht zu wiederholen.» Ob es aber sinnvoll sei, eine Indikation für eine Impfung selbst zu stellen, welche von Experten aktuell nicht empfohlen ist, sei dahingestellt. Deshalb empfiehlt Zemp auf die offizielle Empfehlung der eidgenössischen Impfkommission zu warten.