Rechtsexpertin

«Die Anti-Chaoten-Initiative ist hochproblematisch»

07.03.2024, 10:51 Uhr
· Online seit 11.02.2024, 06:24 Uhr
Am 3. März stimmt der Kanton Zürich über die «Anti-Chaoten-Initiative» ab. Bei einem Ja müssten Demonstrierende künftig Schäden selbst zahlen und alle Demos würden bewilligungspflichtig. Eine Rechtsexpertin findet Initiative und Gegenvorschlag höchst fragwürdig.
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Vermummte schlagen Scheiben von Trams ein, besprayen Hausfassaden und zertrümmern Schaufenster. Diese Vorkommnisse prägen derzeit das Bild von Demonstrationen in Zürich.

Dabei finden praktisch jedes Wochenende friedliche Kundgebungen statt: die Demo gegen Rechtsextremismus, der schweizweite Feministische Streik im Juni oder auch die Klimastreiks. Diese Bilder bleiben weniger im Kopf – oder gehen gar ganz vergessen.

Die «Volksinitiative zur Durchsetzung von Recht und Ordnung» – auch «Anti-Chaoten-Initiative» genannt, kommt am 3. März vor das Zürcher Stimmvolk. Die Junge SVP will unter anderem, dass «gewaltbereite Chaoten sich in Zukunft an den von ihnen verursachten Kosten beteiligen müssen». Linke, Mitteparteien und NGOs befürchten, dass Menschen aus Angst vor den Konsequenzen künftig nicht mehr demonstrieren gehen.

Raphaela Cueni ist Rechtsassistenzprofessorin an der Universität St.Gallen. Im Gespräch mit der Today-Redaktion ordnet sie die Initiative und den Gegenvorschlag des Kantonsrats mit Blick auf die Versammlungsfreiheit ein.

Frau Cueni, die Gegnerschaft sagt, die Initiative führe zu einer «Abschreckungswirkung bei der Ausübung der Versammlungsfreiheit und der freien Meinungsäusserung». Was halten Sie von der «Anti-Chaoten-Initiative»?

Raphaela Cueni: Die Initiative ist unter dem Gesichtspunkt der Versammlungsfreiheit hochproblematisch.

Warum?

Ich sehe zwei problematische Aspekte beim Vorschlag – zum einen die Bewilligungspflicht, zum anderen die Überwälzung der Kosten.

Wieso ist eine generelle Bewilligungspflicht für Demonstrationen problematisch?

Eine Bewilligungspflicht stellt eine Einschränkung der Versammlungsfreiheit dar.

Können Sie erklären, was die Versammlungsfreiheit genau ist?

Versammlungen auf dem öffentlichen Grund sind in der Bundesverfassung geschützt. Der Schutz gilt nach dem Wortlaut der Verfassung nur für friedliche Versammlungen.

Das heisst, wenn Demonstrierende randalieren, ist die Versammlung nicht mehr geschützt?

Es wäre verlockend, zu argumentieren, dass Gewalt oder Sachbeschädigungen an Demonstrationen ja nicht friedlich seien und sich deshalb die Frage der Versammlungsfreiheit nicht stellt. Diese These ist so jedoch nicht korrekt: Versammlungen sind auch noch geschützt, wenn einzelne Teilnehmende Gewalt ausüben oder eine friedliche Stimmung in Teilen der Versammlung umzuschlagen beginnt.

Zürich gilt als die Demo-Hauptstadt. Hier prallen verschiedene Interessen aufeinander. Menschen wollen etwa einkaufen gehen und dann stört eine Demo den Verkehr. Muss man da nicht eingreifen?

Öffentliche Strassen oder Plätze, gerade in einer grösseren Stadt wie Zürich, wollen selbstverständlich von vielen unterschiedlichen Personen mit unterschiedlichen Anliegen gleichzeitig genutzt werden. Dann sind wir bei unvermeidbaren Nutzungskonflikten.

Und was heisst das für die Demonstrationen?

Stehen Interessen verschiedener Gruppen im Konflikt, müssen diese koordiniert werden. Entweder man lässt die Demo durch – oder den Volkslauf. Beides zusammen führt zu einem totalen Chaos und ist gefährlich. Und da kommt die Bewilligungspflicht ins Spiel.

Dann ist die Bewilligungspflicht also etwas Gutes?

Bewilligungspflichten sind grundsätzlich zulässig, sie müssen jedoch so ausgestaltet sein, dass Bewilligungen einfach eingeholt werden können. Spontandemonstrationen müssen zudem möglich bleiben und Veranstalter*innen müssen eine Bewilligung nachträglich einholen können.

Aber sind unbewilligte Demonstrationen nicht schon heute verboten?

Nein. Eine fehlende Bewilligung macht eine Versammlung nicht illegal. Wird eine Versammlung ohne Bewilligung durchgeführt, dann können die Veranstalter*innen für die Verletzung der Ordnungsvorschrift gebüsst werden. Damit wird die Versammlung jedoch nicht rechtswidrig im Sinne, dass man sie deshalb per se und ohne weiteren Grund auflösen dürfte oder müsste. Deshalb ist auch der Terminus der illegalen Demonstration derart problematisch. Nicht nur ist er falsch, er suggeriert insbesondere, dass eine Demo ohne Bewilligung ihre Daseinsberechtigung verliert und aufzulösen ist.

Dennoch gibt es die unvermeidbaren Nutzungskonflikte, die sie angesprochen haben. Gibt es auch andere Mittel als die Bewilligungspflicht?

Allerdings: Je nach lokalen Gegebenheiten lässt sich eine Koordination der Nutzungsinteressen auch durch eine blosse Meldepflicht erreichen. Wo dies so ist, wäre eine Bewilligungspflicht nicht zulässig – weil sie die Versammlungsfreiheit stärker einschränkt als die alternative Meldepflicht.

Was bedeutet das konkret für die «Anti-Chaoten-Inititiative»?

An diesem Punkt hängt die Kritik an der Initiative, aber auch am Gegenvorschlag ein: Beide Vorschläge verlangen eine Bewilligungspflicht in allen Städten und Gemeinden im Kanton, auch wenn teilweise eine Meldepflicht zur Koordination von Benutzungsinteressen vollständig ausreichen würde. Dort könnte eine Bewilligungspflicht als nicht notwendige Einschränkung der Versammlungsfreiheit charakterisiert werden.

Sie kritisieren auch die Kostenüberwälzung auf Demo-Veranstaltende und -Teilnehmende. Können Sie das ausführen?

Eine Regelung, wonach die durch eine Versammlung entstehenden Kosten gleichmässig auf die Teilnehmenden, und zwar unabhängig von ihrem Verhalten, übertragen werden müssen, ist höchst problematisch.

Was genau ist daran problematisch?

Erstens entsteht dadurch unbestritten ein erheblicher abschreckender Effekt – der chilling effect – auf die Teilnehmenden: Muss ich damit rechnen, dass allfällige Kosten einer Versammlung, mit denen bei einer gewissen Grösse immer zu rechnen ist und die auch sehr hoch sein können, auch auf mich übertragen werden, werde ich wohl kaum daran teilnehmen. Nun könnte man sagen, aber es geht ja um illegale Demonstrationen! Aber eben: Versammlungen ohne Bewilligung sind nicht illegal, sie sind einfach nicht bewilligt. Ob bewilligt oder nicht – sie sind weiter durch die Versammlungsfreiheit geschützt.

Und zweitens?

Unter der «illegalen» Demonstration kann auch die Demonstration erfasst werden, die von der bewilligten Marschroute abweicht. Teilnehmende müssen also auch bei bewilligten Veranstaltungen damit rechnen, dass Kosten auf sie überwälzt werden können. Dies ist umso problematischer, da die Grenze der überwälzbaren Kosten in Initiative und Gegenvorschlag nach oben offen ist.

Was heisst das nun konkret für eine Person, die künftig an einer Demonstration im Kanton Zürich – ob bewilligt oder nicht – teilnehmen will?

Die Teilnahme an Demonstrationen ist mir als Grundrechtsträgerin nicht verboten. Da ich jedoch auch bei bewilligten Demonstrationen mit einer Überwälzung von Kosten zumindest potenziell rechnen muss, mache ich vom Recht nicht Gebrauch – aus Angst vor nicht abschätzbaren finanziellen Konsequenzen. Die Ausübung eines für eine demokratische Gesellschaft wesentlichen Grundrechts wird damit indirekt erheblich eingeschränkt.

Ist das Ziel der Initiative also, die Grundrechte einzuschränken?

Zynisch gesagt: Wird beabsichtigt, Menschen davor abzuhalten, von ihrem Recht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch zu machen, dann ist eine solche Regelung zur Kostenüberwälzung ein durchaus probates Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Allerdings fragt sich schon, was eine solche Bestimmung in einem Rechtsstaat zu suchen hat.

Warum braucht es Demonstrationen überhaupt? Es gibt doch auch andere demokratische Mittel in der Schweiz, um politische Anliegen kundzutun.

Gerade für politisch weniger verankerte Kräfte oder nicht so finanzstarke Personen und Organisationen sind Demos ein anerkanntes Mittel, mit einem Anliegen an eine breite Öffentlichkeit zu gelangen. Demonstrationen und Kundgebungen haben eine wichtige politische und demokratische Bedeutung.

Menschenrechts-Organisationen kritisieren die «Anti-Chaoten-Initiative»:

Quelle: TeleZüri / Beitrag vom 6. Februar 2024

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veröffentlicht: 11. Februar 2024 06:24
aktualisiert: 7. März 2024 10:51
Quelle: ZüriToday

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