Auch wenn es bereits 50 Jahre her ist, dass Hans Caprez das erste Mal auf das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» aufmerksam wurde, erzählt er davon, als wäre es gestern passiert. Hans Caprez war erst seit wenigen Monaten bei der Zeitschrift «Beobachter» tätig, als eine jenische Mutter zu ihm in die Sprechstunde kam und erzählte, dass ihr alle fünf Kinder durch die Pro Juventute entzogen worden waren – weiterer Kontakt zu den Kindern wurde ihr verweigert.
Hans Caprez ist sich zuerst unsicher, ob das wirklich stimmen kann. «Sie hat es aber so deutlich erzählt, dass ich mir sicher war, dass man so etwas nicht fantasieren kann», erzählt der heute 83-Jährige. Ausserdem findet Caprez im Zuge seiner Recherchen noch weitere jenische Mütter, die ähnliche Erlebnisse hatten.
Viel Gegenwind
Im Frühjahr 1972 veröffentlicht der «Beobachter» den ersten Artikel unter dem Titel «Fahrende Mütter klagen an». Doch die Reaktionen fallen anders aus als erwartet: «Die Leute waren empört. Aber nicht über die Pro Juventute, sondern über den ‹Beobachter›, der solche Lügen erzähle. Man hat der Pro Juventute geglaubt und jeden Tag gab es Hunderte von Abo-Kündigungen.» Es wird noch ein Jahr dauern, bis die Pro Juventute das Hilfswerk schliesst.
Für Hans Caprez ist Angelegenheit damit aber nicht gegessen. Er beschäftigt sich auch noch viele Jahre später mit den diskriminierenden Taten gegenüber den Jenischen. So erfährt er von Jenischen, welche in Strafanstalten eingewiesen wurden, ohne je ein Verbrechen begangen zu haben. Und er wird er auf sexuelle Missbräuche aufmerksam, welche unter anderem von Angestellten der Pro Juventute ausgingen.
Verschwundene Briefe
Zu Beginn der 80er-Jahre erhält Caprez Einsicht in die Akten, welche die Pro Juventute über die «Kinder der Landstrasse» angelegt hat. Er stösst auf psychiatrische Gutachten, welche jenische Mädchen als sexuell verwahrlost und Prostituierte bezeichnet. «Was mich aber am traurigsten gemacht hat, waren Mappen voller Briefe, die jenische Eltern ihren Kindern geschrieben haben. Das musste man über die Pro Juventute machen und die wurden alle beschlagnahmt.»
Diese Akten, welche im Keller der Pro Juventute lagern, werden über Jahre hinweg zum Streitpunkt zwischen den Betroffenen, der Pro Juventute und den Behörden. Erst 1986, also 13 Jahre nach der Schliessung des «Hilfswerks», gelangen die Akten ins Bundesarchiv. Die Jenischen erhalten endlich Einsicht in die Akten, wobei ihnen auch das nicht leicht gemacht wurde, wie sich Hans Caprez erinnert: «Groteskerweise mussten die Betroffenen ein Gesuch stellen, damit sie ihre eigenen Akten einsehen können. Es haben nicht alle die Erlaubnis dazu bekommen, mit dem Argument, dass so viel Schlimmes in den Akten stehe, dass es nicht zumutbar sei, dass man sie lese.»
1998 kehrt Hans Caprez dem Journalismus den Rücken zu und zieht mit seiner Lebenspartnerin ins italienische Piemont. Der Druck, immer wieder neue Titelgeschichten zu schreiben, wurde ihm zu gross. Die Jenischen, die ihn über die Jahre während seinen Recherchen begleiteten, verschwinden aber nie ganz aus seinem Leben.