Tradition vor dem Aus?

«Es entstehen neue Bräuche wie die Street Parade»

· Online seit 23.10.2023, 09:39 Uhr
Vom Männerchor über Blasmusikvereine bis hin zu Trachtenvereinen — sie alle suchen händeringend nach Nachwuchs. Sterben die Schweizer Bräuche aus? ArgoviaToday sprach mit einem Experten über die Zukunft der Schweizer Traditionen.

Quelle: BärnToday / Kristina Andrianova / Warner Nattiel

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In traditionellem Gewand präsentierte sich der Trachtenverband Aargau an der diesjährigen Ausstellung der Aargauer Landwirtschaft (ALA), um ihre Kunst und Tradition vor allem der jüngeren Generation näherzubringen. Denn es fehlt ihnen vor allem an Nachwuchs, wie zwei Mitgliederinnen gegenüber Radio Argovia erzählt haben. Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber erklärt, warum es Schweizer Brauchtümer aktuell so schwer haben.

Dass gerade Trachtenvereine von Nachwuchsschwierigkeiten betroffen sind, hat laut dem Experten gleich mehrere Gründe: «Zum einen befinden wir uns in einer sehr mobilen Gesellschaft, was die regionale Verankerung des Tanz- und Trachtenwesens wenig attraktiv macht. Zum anderen spielt das grosse Angebot eine Rolle.» Volkstänze würden heute nur eine von vielen Tanzmöglichkeiten darstellen und müssen sich mit anderen Tanzarten wie beispielsweise Bachata, Ballett oder Streetdance messen, so Leimgruber.

Ein entscheidender Punkt ist jedoch, dass viele Bräuche aus patriarchalen Strukturen hervorgehen. Oftmals entstanden sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. «Zu dieser Zeit war klar: Frauen haben nichts zu sagen und gehören eher in den Haushalt als in die Öffentlichkeit. An vielen Festen waren sie daher nur als ‹schmückendes Beiwerk› geduldet. Etwa als Ehrendamen, welchen den Helden die Kränze aufsetzen durften», erklärt Leimgruber. Aber auch heute gibt es noch solche Bilder, wie beispielsweise beim Küren der Schwingerkönige. Die Schwinger haben hingegen kaum Nachwuchsprobleme.

Schwinger haben es geschafft, trendig zu sein, wie der Kulturwissenschaftler näher ausführt. «Zum einen haben sie das Vermarkten verstanden. Denn trotz aller ‹Betonung der Tradition› ähneln Schwinganlässe in Sachen Marketing, Sponsoring und Medienarbeit eher dem Fussball als an andere Brauchveranstaltungen. Zum anderen bietet das Schwingen auf der Suche nach Ursprünglichkeit eine ‹traditionelle und konservative› Antwort», sagt der Experte. «Hier gewinnt noch der Beste im fairen Zweikampf. Wo im Alltag ist das sonst noch so? Hier ist der Mann noch ein Mann. Das ist für viele wichtig in einer Geschlechterdiskussion, die einige verunsichert.»

Brauchtum und Patriotismus liegen nahe beieinander

Bräuche sind in einer Zeit entstanden, in der es darum ging, Nationen überhaupt erst zu definieren und den Menschen ein Gemeinschaftsgefühl zu geben – also um den Patriotismus zu steigern. Heute sei diese Form von Patriotismus aber kaum mehr gefragt. «Viele Bräuche sind ausschliessend. Menschen mit Migrationshintergrund, also mehr als 40 Prozent der Bevölkerung, fühlen sich gerade in Brauchvereinen häufig nicht sehr willkommen», sagt er weiter.

Genau dabei unterscheiden sich einige westlichen von vielen anderen Kulturen. Westliche Kulturen haben Vereine mit Statuten gegründet. In vielen anderen Kulturen, die weniger wohlhabend und auch weniger durchorganisiert sind, sieht man hingegen, wie lebendig Traditionen noch sein können, so der Kulturwissenschaftler.

«Da gibt es keine starren Reglemente, die genau vorschreiben, welche Jodelform zulässig ist und welche nicht. Da dominiert das Ausprobieren. Alle gehören dazu und alle machen mit. Das fehlt den Brauchtümern hierzulande. Sie haben sich auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs in starre Korsette gezwängt, aus denen sie sich heute manchmal nicht mehr befreien können.»

Bräuche sind vergänglich

Gepflogenheiten entwickeln sich also in einem spezifisch historischen und gesellschaftlichen Kontext und verfestigen sich nach und nach zum Brauchtum. Wenn sich der Kontext aber ändert, werden sie überflüssig und geraten nicht selten in Vergessenheit, erklärt der Experte. Die Botschaft vieler Bräuche lasse sich in der heutigen Welt oftmals nur schlecht verorten.

Dazu komme, dass Bräuche in der Schweiz fast immer einen sehr «ländlichen Touch» haben. Das widerspricht einer immer urbaner werdenden Schweiz: «Sennen- und Älplertum sind für viele eher als eine Art Schauspiel attraktiv. Und nicht als realer Teil ihres Lebens. Daher entstehen auch neue Bräuche wie die Street Parade», sagt er. Die Weiterentwicklung der Gesellschaft beendet zwar oftmals das Dasein eines Brauchtums, jedoch werden durch diese Entwicklungen auch wieder neue Brauchformen geboren.

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veröffentlicht: 23. Oktober 2023 09:39
aktualisiert: 23. Oktober 2023 09:39
Quelle: ArgoviaToday

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