Der Schulterschluss in Europa werde langfristige Konsequenzen haben, erklärt Fabio Wasserfallen, Professor für europäische Politik und Direktor des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Bern: «Das, was sicher bleiben wird, ist das institutionelle Zusammenrücken. Bei Corona gab es neue finanzpolitische Instrumente, bei der Eurokrise Reformen und jetzt gibt es eine militärische Koordination – das ist etwas Neues innerhalb der EU. Nach der Krise bleiben Formen der Zusammenarbeit – die vorher nicht denkbar gewesen sind – oft bestehen.»
Gemeinsame Werte verteidigen
Doch weshalb rücken die Länder nun zusammen? «Es ist sicher eine geopolitische Drucksituation: Russland hat gegenüber Europa und auch dem Westen eine klare Ansage gemacht, sicherheitspolitisch und auch energiepolitisch. In so einer Situation ist eine geschlossene Reaktion das, was wir sehen», so Wasserfallen. Dies habe primär mit den gemeinsam Werten und Institutionen der europäischen Staaten zu tun. Auch gemeinsame Interessen in der Sicherheits- und Energiepolitik seien eine Erklärung für den europäischen Zusammenhalt, gerade bei den EU-Ländern. «Es ist nicht einfach Angst oder Panik, sondern es geht um fundamentale Werte und Interessen der europäischen Länder, die in dem Sinne angegriffen und nun auch verteidigt werden», sagt Wasserfallen.
Diese Werte seien es auch, die die Bevölkerungen der verschiedenen Länder einigt, erläutert Wasserfallen: «Gerade Werte wie Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie sind tief in der europäischen Geschichte und im Selbstverständnis der Bevölkerungen verankert.» Deshalb seien andere Länder und ihre Bevölkerung, die diese Werte teilen, nun auch so berührt von der Situation und können sich mit der Situation der Ukrainerinnen und Ukrainer und deren Verteidigung dieser Werte gegen einen Aggressor identifizieren.
(K)eine Krise wie jede andere
Dass eine Krise so einen Zusammenschluss auslöse, sei nicht ungewöhnlich. «Der Mechanismus, dass eine Krise, die eine transnationale Komponente hat und die europäischen Werte attackiert, zu einem Zusammenrücken führt, das ist relativ oft zu beachten – und das war auch so bei anderen Krisen, die in anderen Themengebieten stattgefunden haben.»
Auch wenn es im Falle des Ukraine-Krieges nun nicht um Währungs- oder Gesundheitsthemen gehe, sondern um Fragen der Geostrategie oder Sicherheitspolitik, sei die Reaktion darauf die gleiche, so Wasserfallen: «In der Europäischen Union und bei den Mechanismen innerhalb dieser Institution führen Krisen im Normalfall immer dazu, dass es ein gemeinsames Handeln gibt, dass man erkennt, dass man gemeinsame Werte hat und diese dann verteidigen will.» Diese Werte waren in vergangenen Krisen eine starke Wirtschaft oder der Schutz der Gesundheit und sind nun – bei der russischen Invasion in der Ukraine – vor allem Selbstbestimmung, Freiheit und Demokratie.