Schweiz

Fast 2000 Fälle von Kindsmisshandlungen im 2022 – vor allem Kleinkinder betroffen

04.07.2023, 10:41 Uhr
· Online seit 04.07.2023, 10:35 Uhr
Zum 14. Mal hat die Fachgruppe Kinderschutz der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie vermutete Fälle von Misshandlungen von Kindern und Jugendlichen erfasst. Die Zahlen steigen stets. Für das Jahr 2022 fällt die Zunahme sogar sehr hoch aus.
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2022 ist die Zahl körperlich und psychisch misshandelter Kinder erneut gestiegen. Zwei Kleinkinder unter einem Jahr starben. Insgesamt zählten die 20 teilnehmenden Kinderkliniken 1889 Fälle – das ist eine Zunahme um 14 Prozent.

Vernachlässigung ist häufigste Art der Misshandlung

Die Kinderkliniken diagnostizierten in 30 Prozent der Fälle Vernachlässigungen, gefolgt von körperlichen Misshandlungen in 28 Prozent. Psychische Misshandlungen folgten mit 27 Prozent Anteil an dritter Stelle. Sexuellen Missbrauch stellten die Mediziner bei 14 Prozent der behandelten Kinder fest und knapp 1 Prozent entfiel auf das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.

Die Diagnose Misshandlung galt in 53 Prozent der Fälle als sicher, in 25 Prozent als wahrscheinlich und in 22 Prozent als unklar. Je nach Misshandlungsart unterscheiden sich die Diagnosesicherheiten.

Klare Fälle von Misshandlung finden sich nur in einem geringen Teil der Fälle. So ist die Diagnose für Fachleute schwierig. Nach einer Bewertung von allen Umständen kommt es zu einer gemeinsamen Einschätzung, die in jedem Fall individuell zu treffen ist.

Die Hälfte ist unter 5 Jahre alt

Mädchen werden häufiger als Buben wegen Verdacht auf Misshandlungen erfasst. Bei Buben werden häufiger körperliche Misshandlungen vermutet, bei Mädchen öfters psychische Misshandlungen. Beim sexuellen Missbrauch oder dem entsprechenden Verdacht steigt der Mädchenanteil auf knapp 84 Prozent. Ausser Schlägen und ähnlichem sind Mädchen allen Formen der Misshandlung stärker ausgesetzt als Knaben.

Kleinkinder waren im vergangenen Jahr besonders oft von Misshandlungen betroffen. Die Hälfte der Fälle betrifft Kinder im Alter bis 4 Jahren.

  • Bis 1 Jahr: 334 Kinder (18,2 Prozent)
  • Bis 4 Jahre: 469 Kinder (30,6 Prozent)
  • Bis 6 Jahre: 846 Kinder (44,8 Prozent)

Bei Kleinkindern dürfte die Dunkelziffer für unerkannte Misshandlungen besonders gross sein. Für zwei der Säuglinge endeten die Misshandlungen oder die Vernachlässigung tödlich. Das sind gleich viele Todesfälle der Kinder bis 1 wie im Vorjahr. 2021 waren insgesamt fünf Kinder an körperlichen Misshandlungen gestorben.

Häusliche Gewalt bei vielen Fällen

In der Untersuchung der Fachgruppe Kinderschutz werden Kinder und Jugendliche bis 17 Jahre erfasst, die ambulant oder stationär in einer der 20 teilnehmenden Kliniken betreut wurden. Eine vermutete oder erwiesene Misshandlung wird in folgenden Kategorien eingeordnet:

  • Körperliche Misshandlung
  • Psychische Misshandlung (durch Miterleben häuslicher Gewalt oder andere)
  • Vernachlässigung
  • Sexueller Missbrauch
  • Münchhausen Stellvertreter Syndrom

Unter psychische Misshandlungen fällt auch das Miterleben häuslicher Gewalt. Dieses erst zum zweiten Mal erfasste Leid machte knapp die Hälfte psychischen Misshandlungen aus. Das bestätigt für die Kinderschutzgruppe die Problematik. Dieses Miterleben in ihrem Zuhause ist für die Kinder eine extreme Belastung.

Die meisten Täter kommen aus dem Kreis der Familie

In drei Vierteln aller Fälle sind die Täter in der Familie zu suchen, in 14 Prozent bei Bekannten. Beim Rest handelt es sich um Fremdtäter oder Unbekannte. Beim sexuellen Missbrauch stammen zwei Fünftel der Täter aus dem familiären Umfeld oder dem Bekanntenkreis.

Im Unterschied zum Vorjahr stieg bei körperlichen Übergriffen der Anteil der Täter aus dem Bekanntenkreis von 18 auf 24 und jener der Fremdtäter von 4,5 auf 10 Prozent. Ob das ein Hinweis auf eine grössere gesellschaftliche Gewaltbereitschaft ist, lässt sich nicht sagen, wie die Fachgruppe schreibt.

36 Prozent der Täter sind männlich, 23 Prozent weiblich. Beide Geschlechter sind in 32 Prozent der Fälle beteiligt. Der Rest ist unbekannt oder Angaben fehlen.

Erhöhte Sensibilisierung vs. mehr Zuweisungen

Die Fachleute stellen fest, dass nicht abschliessend geklärt werden kann, ob tatsächlich mehr Misshandlungen aufgetreten sind. Durch eine erhöhte Sensibilisierung für das Problem seien allenfalls mehr Kinder und Jugendliche in die Kliniken zugewiesen worden. Der Anstieg könnte somit seine Ursache in einem besseren Meldeverhalten haben und nicht zwingend auf mehr Ereignisse hinweisen.

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veröffentlicht: 4. Juli 2023 10:35
aktualisiert: 4. Juli 2023 10:41
Quelle: Today-Zentralredaktion

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