Schweiz

«Kann sich ein Sesshafter nicht vorstellen» – die jenische Lebensweise als Streitpunkt

«Kinder der Landstrasse»

«Kann sich ein Sesshafter nicht vorstellen» – die jenische Lebensweise als Streitpunkt

· Online seit 21.07.2023, 07:47 Uhr
Während mehreren Jahrzehnten wurden jenischen Familien die Kinder weggenommen, mit dem Ziel, ihre Kultur auszulöschen. Zwar haben die Kindswegnahmen vor 50 Jahren ein Ende genommen, die Jenischen haben aber auch heute noch mit Diskriminierung zu kämpfen.
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Auch wenn es bereits 50 Jahre her ist, dass das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» seine Türen schloss, haben die Jenischen auch heute noch mit Vorurteilen und Diskriminierung zu kämpfen. Ein ewiger Streitpunkt sind die Stand- und Durchgangsplätze – der Lebensraum von fahrenden Jenischen. Denn von gut 35'000 Jenischen, die in der Schweiz leben, pflegen rund 2000 bis 3000 eine nomadische Lebensweise. Damit sie ihrer Arbeit und ihrem Lebensstil nachgehen können, sind sie auf diese Plätze angewiesen.

Das Hilfswerk ist zu, die Diskriminierung bleibt

Für Daniel Huber, Präsident der Radgenossenschaft, ist die Situation prekär: «Da sind 11 Stühle, aber 20 Leute, die auf diesen Platz wollen. Man muss sich diesen Druck vorstellen. Jeder geht noch früher auf die Reise, mit dem Hintergedanken, dass er auch sicher einen Platz bekommt.» Laut einem Bericht der Stiftung Fahrende aus dem Jahr 2021 fehlen in der Schweiz 20 bis 30 Standplätze und rund 50 Durchgangsplätze. Somit sind in beiden Fällen nur 30 bis 40 Prozent der benötigten Plätze vorhanden.

Wenn Huber von «auf die Reise gehen» spricht, meint er damit die Familien, welche im Sommer von Durchgangsplatz zu Durchgangsplatz ziehen, damit die Eltern ihrer Arbeit nachgehen können. «Es gibt keinen Jenischen, der nur einen Beruf hat. Ein Jenischer hat sechs oder sogar acht Berufe. Sei es Scherenschleifer, Dachdecker oder Antiquitätenhändler.» Andere wiederum leben das ganze Jahr über im Wohnwagen auf einem Standplatz. Doch auch davon gibt es zu wenige.

Erschwerte Bedingungen zu Coronazeiten

Auch die Coronapandemie hat Daniel Huber als sehr schwierige Zeit in Erinnerung: «Wir hatten sowieso schon zu wenige Stand- und Durchgangsplätze und dann wurden gewisse Durchgangsplätze noch komplett geschlossen. Wir konnten nirgendwo hin und standen auf der Strasse. Das kann sich ein Sesshafter nicht vorstellen.» Auch sei er wieder vermehrt rassistischen Stereotypen begegnet: Leute hatten das Gefühl, dass die Fahrenden das Coronavirus stärker verbreiten als andere Bevölkerungsgruppen.

Es sind Vorurteile wie diese, welche den Jenischen das Leben schwer machen. Huber glaubt, dass dieser Unmut auch von einem gewissen Neid von Sesshaften herrührt, die das Leben der Jenischen, welche in einem Wohnwagen leben, romantisieren. Dabei ist es für die Fahrenden ein Lebensstil, der es ihnen ermöglicht, ihrer Arbeit nachzugehen und nichts mit Urlaub zu tun hat.

Es ist längst überfällig, die Vorurteile gegenüber den Jenischen abzubauen. Denn genau wie alle Schweizer bezahlen auch sie Steuern, leisten Militärdienst, erwerben ein Patent, um ihrer Tätigkeit als Scherenschleifer oder Antiquitätenhändlerin nachgehen zu dürfen und bezahlen Miete für ihre Stand- und Durchgangsplätze.

Rund 2000 Kinder fremdplatziert

Während fast fünf Jahrzehnten hat das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute über 600 jenische Kinder systematisch von ihren Familien getrennt und in Heime, Pflegefamilien und Strafanstalten gesteckt, um sie so zur Sesshaftigkeit umzuerziehen. Viele von ihnen waren Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt oder wurden verdingt. Zusätzlich wurden viele Kinder von den kommunalen und kantonalen Vormundschaftsbehörden direkt fremdplatziert. Insgesamt waren damit rund 2000 jenische Kinder betroffen.

veröffentlicht: 21. Juli 2023 07:47
aktualisiert: 21. Juli 2023 07:47
Quelle: ArgoviaToday

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