Experten erklären

So beeinflusst der Israel-Palästina-Konflikt die Schweiz – und umgekehrt

· Online seit 01.11.2023, 06:19 Uhr
Die Militäroffensive im Gaza-Streifen beschäftigt die Welt nun seit mehreren Wochen. Auch die Schweiz hat teilweise Stellung bezogen, Evakuationsflüge organisiert und über eine Einstufung der Hamas als Terrororganisation diskutiert. Doch wie konkret ist die Schweiz vom Konflikt im Nahen Osten betroffen?
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Diese Frage beschäftigt die beiden Experten Andreas Böhm und Erik Petry zurzeit tagtäglich. Böhm ist Nahostexperte an der Universität St.Gallen, Petry stellvertretender Leiter des Zentrums für Jüdische Studien in Basel. Im nachfolgenden Artikel beantworten sie die Fragen der Today-Redaktion aus der jeweiligen Perspektive ihrer Expertise.

Wie steht die Schweiz – aktuell und historisch gesehen – zu Israel und Palästina?

Andreas Böhm (AB): «Die Schweiz setzt sich für eine Zweistaatenlösung ein. Sie anerkennt das Existenzrecht Israels innerhalb sicherer Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes, das heisst das Recht, einen lebensfähigen, zusammenhängenden und souveränen Staat zu errichten, mit Ostjerusalem als Hauptstadt. Massgeblich sind dafür die Grenzen von 1967. Deswegen betrachtet die Schweiz israelische Siedlungen ausserhalb dieser Grenzen als Verstoss gegen das Völkerrecht. Diese Position des Bundesrats und des EDA bezieht sich auf das Völkerrecht, einschlägige Verträge und Resolutionen des UN-Sicherheitsrats. Das Palästinenserhilfswerk der UNO (UNRWA) wird durch die Schweiz mit jährlich 20 Millionen Franken unterstützt. Wichtig ist ebenso das humanitäre Engagement aus der Schweiz, beispielsweise das IKRK, das im Konflikt wertvolle Arbeit leistet. Der Bundesrat hat den Terrorangriff der Hamas aufs Schärfste verurteilt und der israelischen Bevölkerung seine Solidarität ausgedrückt. Zudem hat er das Recht Israels, sich dagegen zu verteidigen, anerkannt, dabei aber auf die Einhaltung humanitären Völkerrechts gedrängt. Die Hamas soll zur Terrororganisation erklärt werden.»

Erik Petry (EP): «Die Schweiz hat vor allem über die Stadt Basel ein besonderes Verhältnis zu Israel, weil in Basel der erste Zionistenkongress stattfand, Basel also quasi Pate stand später bei der Gründung des Staates Israel. Die Schweiz sonst hat eine enge Beziehung zu Israel im wirtschaftlichen Bereich, politisch versucht sie in diesem Konflikt eine neutrale Position einzunehmen. Das heisst, sich auf keiner Seite zu verpflichten, aber auch keine Seite zu verurteilen, um als Mediator weiter tätig sein zu können.»

Welche Auswirkungen hat die Positionierung der Schweiz im aktuellen Konflikt auf ihre Aussenpolitik? Gibt es Entscheidungen, die gewisse internationale Beziehungen gefährden können oder könnten?

AB: «Die Entscheidung des EDA, die Zuwendungen für elf israelische und palästinensische Menschenrechtsorganisationen zu sistieren, hat in diesem Sektor zu Irritationen geführt. Begründet wurde der Schritt mit der Notwendigkeit zu überprüfen, ob die Kommunikation der Institutionen mit dem Code of Conduct des EDA vereinbar ist. Wenn der gegenwärtige militärische Konflikt einmal beendet ist, beginnt die Zeit für diplomatische Initiativen, um eine politische Lösung zu finden. Hier kann die Schweiz eine tragende Rolle spielen. Die Zweistaatenlösung steht auf dem Papier, ist in der Realität indes weiter entfernt denn je. Bei einem Blick auf die Landkarte des Westjordanlandes stellt ein zusammenhängendes Gebiet angesichts der Siedlungen und den Verbindungen dazwischen eine Illusion dar. Kann man sie wiederbeleben oder braucht es andere Ansätze? Unzweifelhaft ist die Hamas faktisch eine Terrororganisation, doch sie als solche zu deklarieren, schränkt möglicherweise den rechtlichen Spielraum ein, mit ihr zu verhandeln, beispielsweise über die Freilassung von Geiseln.»

EP: «Von der Schweiz wird erwartet, dass sie sich positioniert. Die Schweiz hat sich in Bezug auf eine Positionierung gegenüber dem Angriff der Hamas auf Israel sehr zögerlich verhalten, immer mit dem Blick, dass die Aussenpolitik davon bestimmt ist, dass man selber seine guten Dienste anbieten möchte, sei das über die Politik oder Organisationen. Und wenn man diese Hilfe als Land anbieten will, dann ist klar, dass man eine neutrale Position haben muss. Auch mit der offiziellen Bezeichnung der Hamas als terroristische Organisation hält sich die Schweiz trotz Forderungen sehr zurück, weil sie ihre Mediationsfunktion sonst nicht mehr ausüben könnte.»

Gibt es für die Schweiz politische oder wirtschaftliche Nachteile durch den Israel-Palästina-Konflikt?

AB: «Die Schweiz hat einen grösseren diplomatischen Spielraum als andere Staaten, beispielsweise Deutschland. Diesen kann sie nutzen. Wirtschaftliche Nachteile könnten durch eine weitere Eskalation in der Region entstehen, aber davon wäre die Schweiz nicht stärker betroffen als andere Staaten.»

EP: «Politische Nachteile kommen dann, wenn die Schweiz nicht in der Diplomatie aktiv werden kann und trotzdem die Hamas nicht zur Terrororganisation erklärt. Das würde in Europa und Amerika sicherlich nicht als sehr positiv vermerkt werden. Wirtschaftlich ist es im Moment noch sehr schwer einzuschätzen, weil die israelische Wirtschaft sich gerade noch so hält. Allerdings ist hier die Frage, was mit der israelischen Wirtschaft passiert, wenn sich diese Kriegssituation länger hinzieht. Wenn die ungeheuer grosse Anzahl Reservistinnen und Reservisten, die eingezogen wurde und dadurch ja dem Wirtschaftsprozess fehlt, langfristig fehlt, dann könnte die israelische Wirtschaft Probleme bekommen und dann könnte es möglicherweise auch für die Schweiz, als Land, das Dinge aus Israel importiert, Schwierigkeiten geben.»

Gibt es Produkte oder Rohstoffe, die die Schweiz aus den betroffenen Regionen importiert und die nun teurer werden?

AB: «Eine Ausweitung des Konfliktes würde in erster Linie den Ölpreis betreffen und sich damit auf die Weltwirtschaft als Ganzes auswirken.»

EP: «Wir reden vor allem von der Hightech-Industrie, in der zusammengearbeitet wird. Da möchte ich aber nicht über mögliche Auswirkungen spekulieren.»

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veröffentlicht: 1. November 2023 06:19
aktualisiert: 1. November 2023 06:19
Quelle: ArgoviaToday

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