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«Transportiert ein falsches Bild»: Scharfe Kritik an SRF-Rollstuhl-Doku

05.09.2023, 09:24 Uhr
· Online seit 30.08.2023, 15:59 Uhr
Von Göschenen nach Airolo – und das nicht mit dem Zug oder über die Autobahn. Nein, drei Abenteurer legen die Strecke mit ihrem Rollstuhl zurück. Im Rahmen von «SRF ohne Limit: Im Rollstuhl über die Schweizer Alpen» stellen sich drei Teams dieser Herausforderung. Im Kreis der Rollstuhlfahrer stösst die Dokumentation aber auf Kritik.
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Unser Interviewpartner möchte anonym bleiben. Er hatte vor rund 20 Jahren einen Velounfall und sitzt seither im Rollstuhl.

Du hast dir die Folgen auf SRF angeschaut. Wie waren deine Gefühle währenddessen?

Für die Rollstuhlfahrer, die diese Challenge gemacht haben, war es sicher eine gute Erfahrung. Auf mich hingegen hat die ganze Geschichte sehr gestellt gewirkt. Es entspricht in keiner Art und Weise, wie man sich im Rollstuhl fortbewegt. Die Darstellung suggeriert, dass ein Rollstuhlfahrer, sobald er an die Grenzen kommt, direkt Hilfe von drei bis vier Personen benötigt.

Die Zuschauenden bekommen also einen falschen Eindruck über das Leben im Rollstuhl?

Genau. Es wurde so inszeniert, dass der Rollstuhlfahrer permanent mit sich selbst beschäftigt ist. Gleichzeitig wurden die zwei Begleitpersonen, die zu Fuss unterwegs waren, völlig ans Limit getrieben. Das entspricht einfach nicht dem Alltag. Es gibt viele Freizeitbeschäftigungen, die einen als Rollstuhlfahrer an die Grenzen bringen. Die kann er aber selber bewältigen, ohne Hilfe von Fussgängern. Ich finde es sehr schade, dass für die Dokumentation eine Variante gewählt wurde, bei der es ohne Hilfe unmöglich ist, diese Challenge zu schaffen.

Du bist in deiner Freizeit auch viel unterwegs und bist ja nicht grundsätzlich gegen solche abenteuerlichen Ausflüge, oder?

Nein, es geht überhaupt nicht darum, etwas zu verhindern. Dass der Weg der Rollstuhlfahrer in der Dokumentation so war, kann ich absolut akzeptieren. Hingegen finde ich es fragwürdig, so eine grosse «Primetime-Story» daraus zu machen. Es hinterlässt halt den Eindruck, dass das die einzige Form der sinnvollen Freizeitgestaltung ist. Ich selber betreibe auch Sportarten, bei denen ich Hilfe benötige. Mir käme es aber nie in den Sinn, daraus eine Video-Story zu machen, bei der ich im ganzen Land zur Hauptsendezeit erklären muss, wie ich das mache.

Du sagst, dass es im Alltag ganz andere Herausforderungen sind, denen man sich als Rollstuhlfahrer stellen muss. Zum Beispiel?

In den Sommerferien wollte ich einfach nur ganz normal an einen Strand liegen und baden gehen. Das war schon eine riesige Herausforderung. Ein Rollstuhl im Sand ist praktisch nicht möglich, dafür braucht es spezielle Strandrollstühle, bei denen die Räder breiter sind. Und abgesehen davon ist es auch eine sportliche Leistung, dann überhaupt ins Meer zu kommen.

Du hast dich zur SRF-Serie auf den Sozialen Medien geäussert. Wie war das Feedback darauf?

Die Rückmeldungen, die ich bekommen habe, gingen durchgehend in die gleiche Richtung. Alle haben sich gefragt, was das soll. Es entsteht das Bild, dass ein Rollstuhlfahrer bei jeder kleinen Herausforderung sofort Hilfe von mehreren Personen braucht. Das ist der Punkt, der uns gestört hat. Es lenkt den Fokus von den echten Herausforderungen weg. Man geht irgendwie davon aus, dass die normalen Schwierigkeiten durch die Inklusion gelöst sind. Das ist aber überhaupt nicht der Fall. Solche Geschichten zeigen, dass ein Rollstuhlfahrer, wenn er es möchte, überall hochkommt. Aber eigentlich kommt er dort gar nicht hoch ohne Hilfe.

Die Dokumentation wurde in Zusammenarbeit mit der Schweizer Paraplegiker-Stiftung in Nottwil erarbeitet. Findest Du deren Engagement bei der Sendung in Ordnung?

Es ist natürlich schon so, dass die Paraplegiker-Stiftung die Fachstelle schlechthin ist im Land für alle Leute im Rollstuhl. Und wenn die so etwas unterstützt, hat das natürlich eine riesige Strahlkraft. Ich kann mir auch vorstellen, dass sich dort jemand exponiert hat, der in keiner Art und Weise die Gesamtmeinung der Organisation teilt. Aber schlussendlich muss sich eine Organisation, wenn sie solche Sendungen unterstützt, bewusst sein, was dort passiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Organisation in dieser Grösse 100 Prozent hinter dieser Message stehen kann.

Stimmen denn den Dienstleistungen und der Service des Paraplegiker-Zentrums für die Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer?

In den letzten 20 Jahren habe ich Veränderungen festgestellt. Die Organisation ist in dieser Zeit fast doppelt so gross geworden. Dadurch sind die Prozesse komplizierter geworden. Gerade auch in der Zeit nach Corona habe ich festgestellt, dass gewisse Dinge nicht mehr so einfach sind wie früher. Wenn man beispielsweise einen Termin braucht, kann man nicht einfach anrufen und erhält ein paar Tage später einen. Das ist jetzt wie bei jedem anderen Spital auch, man kann froh sein, wenn man in zwei oder drei Monaten einen Termin erhält. Die Stiftung hätte die Mittel, die sie für die Doku eingesetzt hat, lieber an anderen Orten investiert.

Noch einmal zurück zur Sendung. Würdest du den Leuten trotzdem empfehlen, diese zu schauen?

Auf jeden Fall! Aber mir ist wichtig, dass es mit anderen Augen geschaut wird. Dass man sich bewusst ist, dass das, was da geleistet wurde, eine sehr gestellte Leistung ist. Man kann die Geschichte ein wenig mit den Sherpas im Himalaya vergleichen. Menschen ohne Bergerfahrung lassen sich für viel Geld von Sherpas auf den Mount Everest hochschleppen. Anders würden sie das gar nicht schaffen. Das Ganze hat dann aber nichts mit dem wahren Bergsteigen zu tun.

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veröffentlicht: 30. August 2023 15:59
aktualisiert: 5. September 2023 09:24
Quelle: 32Today

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