Tiefenlager

«Unverständlich»: Nagra rechnet nicht mit Rückholung der radioaktiven Abfälle

02.08.2023, 18:49 Uhr
· Online seit 02.08.2023, 17:07 Uhr
Sobald die radioaktiven Abfälle im Tiefenlager Nördlich Lägern untergebracht sind, startet eine Beobachtungsphase. Während dieser Zeit können die Abfälle noch zurückgeholt werden. Die Nagra geht jedoch nicht davon aus, dass dieses Szenario eintritt – und ruft damit Kritiker auf den Plan.
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«Die Nagra geht nicht davon aus, dass wir den Abfall zurückholen müssen», heisst es in einem Bulletin zur Versammlung der Regionalkonferenz Nördlich Lägern vom 28. Juni 2023. Trotzdem muss die Nationale Genossenschaft für die Lagerung radioaktiver Abfälle, kurz Nagra, ein Konzept für die Rückholbarkeit erarbeiten.

Dabei ist vorgesehen, dass das Tiefenlager nach der Einlagerung für 50 Jahre lang unter Beobachtung stehen wird. In dieser Zeit werden Daten als Entscheidungsgrundlage für den Verschluss des Lagers erfasst. Gegner des Endlagers wie auch Experten stellen das Rückholkonzept aber infrage.

«Das kann man sich an den Hut stecken»

«Die Nagra würde am liebsten ein Loch machen, das Zeug hineinwerfen und alles zu machen», sagt Daniel Wülser gegenüber ZüriToday. Der ehemalige Stadtparlamentarier aus Bülach und Angehörige der Regionalkonferenz Nördlich Lägern ärgert sich besonders über die Aussage, dass die Nagra nicht davon ausgehe, den Abfall zurückholen zu müssen.

«Wie können die Verantwortlichen so etwas aus heutiger Sicht behaupten?» Es sei völlig unklar, wie die Sachlage um Atommüll in Zukunft aussehe. «Die 50 Jahre kann man sich an den Hut stecken!» Ausserdem stört sich Wülser daran, dass an der besagten Vollversammlung keine kritische Fragerunde möglich war und diese «wohl bewusst abgeklemmt wurde».

Auch Marcos Buser findet 50 Jahre zu kurz, um die Entwicklung des Tiefenlagers zu beurteilen. Der Geologe war Mitglied der Expertengruppe Entsorgungskonzepte für radioaktive Abfälle (Ekra) und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit der Entsorgung von Sonderabfällen. Er findet es nicht sinnvoll, solch einen kurzen Beobachtungszeitraum festzulegen. «Wenn man ein Monitoring macht, müsste man das mehrere hundert Jahre lang verfolgen», sagt Buser.

Die Definition einer Beobachtungsphase sei eine Frage der Kosten. «Mit einem Monitoring gewinnt man an Sicherheit, aber diese hat ihren Preis». Je länger man das Endlager offen halte, desto mehr Geld gehe für die Beobachtung und den Unterhalt drauf.

Künftige Generationen sollten entscheiden

Ausserdem ist der Geologe der Meinung, dass im Hier und Jetzt nicht für künftige Generationen entschieden werden kann. Darum hält er nichts davon, bereits heute einen Zeitpunkt für den Verschluss festzulegen. Gesellschaftlich sei die Idee eines Endlagers, in dem man die Abfälle einschliesst und dann vergessen kann, nicht akzeptierbar. «Denn wir wissen gar nicht, wie es in Zukunft mit der Atomenergie weiter geht.»

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Deshalb kann Buser nicht nachvollziehen, dass die Nagra davon ausgeht, dass sie den Abfall nicht zurückholen muss. Es gebe durchaus Gründe, welche eines Tages für eine Rückholung sprechen könnten. Neben der Sicherheit des Endlagers spielen hierbei auch mögliche Verwertungsmethoden für die Abfälle eine Rolle. «Wiederverwertung ist sicher ein Thema, aber das braucht noch Zeit», schätzt Buser ein.

Auch Wülsers Kritik, dass es an Nagra-Veranstaltungen keinen Raum für Diskussionen gebe, kann Buser nachvollziehen. An der Versammlung der Regionalkonferenz Ende Juni sei er zwar nicht dabei gewesen. Doch erlebte auch er schon entsprechende «Scheinveranstaltungen, an denen es keine Debatten gab».

«Die Nagra verfolgt ein robustes Lagerkonzept»

«An unseren Veranstaltungen räumen wir Fragen der Teilnehmenden sowie der Diskussion bewusst viel Raum ein», sagt Nagra-Mediensprecher Felix Glauser auf Anfrage von ZüriToday. Bei einer Vollversammlung handle es sich ausserdem um einen Anlass der Regionalkonferenz und nicht der Nagra. Sie sei dort regelmässig mit Referentinnen und Referenten vertreten. Aber auf die Form und Gestaltung der Veranstaltungen habe die Nagra keinen direkten Einfluss.

Ihr Lagerkonzept beschreibt die Genossenschaft als «robust und mit mehreren Sicherheitsbarrieren und grossen Sicherheitsreserven». Den radioaktiven Abfall dürfe sie erst dann einlagern, wenn die Behörden bestätigen, dass das Tiefenlager sehr sicher ist.

«Wenn Zweifel an der Sicherheit bestünden und die Rückholung daher ein wahrscheinliches Szenario wäre, erhielten wir keine Bewilligung für die Einlagerung», erklärt Nagra-Mediensprecher Felix Glauser. «Deshalb rechnen wir nicht damit, die Abfälle zurückholen zu müssen – aber wir könnten.»

Das Szenario, die Abfälle aus Sicherheitsgründen zurückholen zu müssen, schätzt die Nagra also als sehr unwahrscheinlich ein. Ein zweites Szenario sieht vor, dass man den Abfall eines Tages zurückholen will aufgrund anderer Entsorgungsmethoden oder zwecks Wiederverwertung. «Ob das geschieht, müssen aber die künftigen Generationen entscheiden», sagt Glauser.

Eine Frage, die auch in der Zukunft entschieden wird, ist der Zeitpunkt für den Verschluss des Lagers. Die Nagra geht zwar von einer 50-jährigen Beobachtungsphase aus, deren Dauer ist jedoch nicht gesetzlich festgelegt. «Den Verschluss muss der Bundesrat entscheiden», erklärt Glauser. «Er wird sich mit seinen Experten die nötige Zeit lassen, bis ein Verschluss angezeigt ist.» Zudem sei ein Monitoring des Lagers auch danach noch möglich.

veröffentlicht: 2. August 2023 17:07
aktualisiert: 2. August 2023 18:49
Quelle: ZüriToday

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