«Kinder der Landstrasse»

Von rassenideologischen Theorien zum «Hilfswerk»

· Online seit 18.07.2023, 06:02 Uhr
Vor bald 100 Jahren wurde in der Schweiz ein sogenanntes Hilfswerk gegründet, welches es sich zum Ziel setzte, die Jenischen und ihre fahrende Lebensweise auszulöschen – die Grundlage dafür waren rassenhygienische Ideologien. Wie konnte es so weit kommen?
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Es ist nur schwer vorstellbar, was sich während fast 50 Jahren in der Schweiz zugetragen hat: Über 600 jenische Kinder wurden durch das «Hilfswerk Kinder der Landstrasse», welches zur Stiftung Pro Juventute gehörte, systematisch von ihren Familien getrennt und in Heime, Pflegefamilien und Strafanstalten gesteckt, um sie so zur Sesshaftigkeit umzuerziehen. Wer die Kindswegnahmen, welche direkt durch die Vormundschaftsbehörden stattfanden, dazuzählt, landet bei einer geschätzten Zahl von circa 2000 jenischen Kindern. Viele von ihnen waren Gewalt und sexuellem Missbrauch ausgesetzt oder wurden verdingt. Die Schweiz schaute zu.

Die Geschichte der Jenischen

Wer die Ursprünge des «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» verstehen will, muss sich mit der Geschichte der Jenischen befassen, auch wenn diese bis heute nicht abschliessend geklärt ist. Denn die nomadische Lebensweise hat in Europa lange Tradition. Erstmals tauchte der Begriff «Jenische» Anfang des 18. Jahrhunderts auf, was jedoch nicht bedeutet, dass sie nicht schon viel früher da waren. Nur waren sie unter anderen Bezeichnungen bekannt.

Die Jenischen sind also keineswegs Fremde und auch ihre nomadische Lebensweise ist nichts Unbekanntes: Denn ursprünglich waren auch die anderen Völker auf Schweizer Grund nomadisch und die Sesshaftigkeit entwickelte sich erst im Laufe der Zeit. Zudem waren fahrende Völker für die Schweiz unverzichtbar: Vor der verkehrstechnischen Erschliessung waren abgelegene Regionen auf jenische Wanderarbeiter und Hausierer angewiesen.

Rassenhygienische Ideologien

Trotzdem galt ihre fahrende Lebensweise später als unzivilisiert und die Jenischen wurden als nationales Problem angesehen. Zudem verbreitete Johann Josef Jörger, Psychiater und erster Direktor der Klinik Waldhaus in Chur, zu Beginn des 20. Jahrhunderts rassistische Vorurteile gegenüber den Fahrenden.

Schon rein aus zeitlichen Gründen sind Jörgers Theorien auch nationalsozialistische Züge zuzuordnen. In einem Vortrag, den er 1924 hielt, empfahl Jörger die völlige Trennung und Fremdplatzierung der jenischen Kinder als schwierigen, aber einzig möglichen Weg, um den Kindern die jenische Lebensweise auszutreiben. Schlussendlich waren es Jörgers Theorien, auf welche sich Alfred Siegfried, Gründer des «Hilfswerk Kinder der Landstrasse» stützte und damit den Grundstein dafür legte, dass jenische Familien während fast 50 Jahren systematisch auseinandergerissen wurden.

veröffentlicht: 18. Juli 2023 06:02
aktualisiert: 18. Juli 2023 06:02
Quelle: ArgoviaToday

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