Schweiz

Warum die Zuwanderung jetzt das bürgerliche Lager spaltet

10-Millionen-Schweiz

Warum die Zuwanderung jetzt das bürgerliche Lager spaltet

· Online seit 04.07.2023, 17:30 Uhr
Die SVP bringt mit einer neuen Initiative das Thema Zuwanderung wieder auf die politische Agenda. Die Migration sei für alle möglichen Probleme verantwortlich – von der Wohnungsnot bis zum Fachkräftemangel. Der Bund und Wirtschaftsverbände widersprechen.
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Eine Schweiz mit 10 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern. Dieses Szenario, das nach Berechnungen des Bundes um das Jahr 2040 eintreten dürfte, erzeugt diametral auseinander liegende Reaktionen. Auf der einen Seite stehen die Befürworter des Bevölkerungswachstums, die sich davon Vorteile für die Wirtschaft versprechen. Dagegen argumentieren die Gegner des Wachstums mit Knappheit von Wohnraum, Infrastruktur und Dienstleistungen.

Die Debatte um das Bevölkerungswachstum ist in der Schweiz seit jeher eng mit dem Thema Zuwanderung verknüpft. Die Schweiz ist ein Einwanderungsland, und wenn keine Menschen hierher migrieren würden, wäre die Bevölkerung schon seit einigen Jahren rückläufig. Wer und wie viele Menschen einwandern dürfen, darüber wird seit Jahrzehnten gestritten, wie über wohl kaum ein anderes Thema der jüngeren Schweizer Geschichte.

Für die SVP ist die übermässige Zuwanderung ein Grundübel

Vor allem die Schweizerische Volkspartei SVP nimmt das Thema Zuwanderung immer wieder auf die Agenda. 2014 gelang ihr mit der sogenannten «Masseneinwanderungs-Initiative» ein Erfolg. 50,3 Prozent der Abstimmenden erklärten sich damit einverstanden, die Einwanderung durch Höchstzahlen und Kontingente zu begrenzen.

Im Wahljahr 2023 nimmt die SVP erneut einen direktdemokratischen Anlauf. Mit einer am Wochenende lancierten Volksinitiative will sie diesmal explizit die 10-Millionen-Schweiz verhindern. Laut der Partei wurzelt ein Grossteil der heutigen Probleme im Bevölkerungswachstum: Wohnungsknappheit, überlastete Verkehrswege, Umweltzerstörung, Energiekrise. Sogar der viel beschworene Fachkräftemangel sei eine Folge der Einwanderung, sagte der Thurgauer Nationalrat Manuel Strupler am Dienstag.

Bund soll Einwanderungs-Abkommen aufkünden

Die SVP argumentiert neu mit dem Stichwort «Nachhaltigkeit». Gemäss Initiativtext soll die Bundesverfassung mit einem Artikel zur «nachhaltigen Bevölkerungsentwicklung» ergänzt werden. Ihm zufolge dürfte die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz zehn Millionen Menschen vor dem Jahr 2050 nicht überschreiten.

Stehe die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz bei neuneinhalb Millionen Menschen, so müsse der Bund Massnahmen ergreifen. Dann dürften vorläufig Aufgenommene etwa keine Aufenthalts- oder Niederlassungsbewilligung, kein Schweizer Bürgerrecht und kein anderweitiges Bleiberecht mehr erhalten. Reichten diese Massnahmen nicht, müsste die Schweiz als Notbremse letztlich internationale Verträge wie das Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU aufkündigen.

Quelle: Keystone-SDA

Schweiz kann Nachfrage nach Arbeitskräften nicht alleine decken

Gerade dieses Personenfreizügigkeitsabkommen wurde von staatlicher Seite vor kurzem als Erfolg gewertet. In den letzten 20 Jahren habe die Einwanderung die Alterung der Bevölkerung gedämpft und das Potenzial des Arbeitsmarkts erweitert. Zu diesem Schluss kommt das Observatorium zum Freizügigkeitsabkommen in einem am Dienstagmorgen veröffentlichten Bericht.

Die Schweiz habe ökonomisch von der Personenfreizügigkeit profitiert; und sie sei auch in Zukunft auf die Einwanderung angewiesen, hiess es an der Pressekonferenz. Gemäss den Szenarien des Bundesamtes für Statistik werde das künftige Wachstum der Bevölkerung im Erwerbsalter noch stärker als bisher von der Zuwanderung abhängen. Die Babyboomer gehen in Pension, Geburten alleine können sie nicht ersetzen.

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Wirtschaftsverbände argumentierten ähnlich. Ohne die ausländischen Arbeitskräfte werde es auch in Zukunft nicht gehen, sagt etwa Rudolf Minsch, Chefökonom beim Wirtschaftsdachverband Economiesuisse gegenüber dem «Blick». Valentin Vogt, der Präsident des Arbeitgeberverbands, warnt sogar vor einem Wohlstandsverlust, sollte die Zuwanderung eingeschränkt werden. Weniger Zuwanderung heisse angesichts des Mangels an Arbeitskräften weniger Lebensqualität, sagte Vogt an einer Medienkonferenz Ende Juni.

Wie «Swissinfo» berichtet, hatte die neue Nachhaltigkeitsinitiative sogar SVP-intern für Auseinandersetzungen gesorgt. Der konservative und migrations-skeptische Flügel habe sich dafür starkgemacht. Liberalere Kreise in der Partei hätten dagegen ebenso wie Bund und Wirtschaftsverbände vor den Auswirkungen einer Begrenzung auf die Schweizer Wirtschaft gewarnt.

Fachkräftemangel: Folge oder Heilmittel?

Auffällig ist, dass sowohl die Befürworter als auch die Gegner der Zuwanderung den Fachkräftemangel als Argument benutzen. Dass so viele Branchen händeringend nach Mitarbeitenden suchen, sei eine Folge der «masslosen Einwanderungspolitik», sagte Manuel Strupler vom SVP-Initiativkomitee. Mit jedem neuen Einwohner der Schweiz brauche es auch mehr Lehrpersonen, mehr Ärztinnen und Ärzte, mehr Personal in Gastronomie und ÖV.

Völlig anders lautet die Analyse bei den Wirtschaftsvertretern. Gerade weil die Arbeitskraft an so vielen Orten fehle und es der Schweiz wirtschaftlich gut gehe, brauche es Personal aus dem Ausland. Ohne ausländische Arbeitskräfte wäre die Schweiz nicht so erfolgreich, wie sie heute dastehe, hielt Arbeitgeber-Chef Vogt fest. Ohne sie stünden Baustellen still und Restaurants oder Spitäler hätten grosse Schwierigkeiten, den Betrieb aufrechtzuerhalten. Auch das Staatssekretariat für Wirtschaft betont auf Anfrage der Today-Redaktion, dass es die Wirtschaftsentwicklung bremsen könne, wenn der Fachkräftemangel länger anhalte.

Immerhin, bei einem Anliegen sind sich SVP und Wirtschaftsverbände einig. Bund, Kantone und staatsnahe Betriebe müssten aufhören, immer mehr Stellen in der öffentlichen Verwaltung zu schaffen. Mit hohen Löhnen und attraktiven Anstellungsbedingungen würden so der Privatwirtschaft qualifizierte Arbeitskräfte entzogen.

(osc mit Material der sda)

veröffentlicht: 4. Juli 2023 17:30
aktualisiert: 4. Juli 2023 17:30
Quelle: Today-Zentralredaktion

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